Totenreigen
Der Tod
durch Erfrieren ist wahrscheinlich schon gegen Mitternacht eingetreten. Ein
Gutachter hat festgestellt, dass die Grabumrandung aus künstlichem Rasen auf
dem Stahlgitter wegen des plötzlichen Frosteinbruches abrutschte, als der
Bestatter Klockemann sie betrat, und ihn deshalb in das ausgehobene Grab
mitriss. Seine Frau, Ingrid Klockemann, hat ausgesagt, dass ihr Mann regelmäßig
am Vorabend einer ›wichtigen Beerdigung‹, so stand es in ihrer Aussage, nach
dem Rechten sehen müsse. Sein Sohn, Jochen Klockemann, hat in seiner Befragung
zu Protokoll gegeben, dass seine Mutter seinen Vater immer zu dieser
›Grabkontrolle‹, so hat er sich ausgedrückt, getrieben hätte. Damit gibt er
indirekt seiner Mutter die Schuld am Tod seines Vaters. Strafrechtlich nicht
relevant, weil es ja ein Unfall war.«
»Ein bemerkenswerter Unfall«, sagte Lüthje nachdenklich.
»Frau Klockemann sagte«, fuhr Hoyer fort, »dass sie ihren Mann in
der Nacht nicht vermisst habe, weil er zu einem Treffen seiner Loge wollte.
Meist habe er dann auch im Logenhaus übernachtet. Eine Versammlung der Loge an
diesem Abend hat tatsächlich stattgefunden. Die Staatsanwaltschaft begründete
den Einstellungsbeschluss mit einem Zusammentreffen unglücklicher Umstände. Das
war’s. Ich hab Ihnen meine Zusammenfassung ausgedruckt und in den
Papierkriegsordner gelegt.«
»Frau Klockemann hat also sinngemäß ausgesagt: ›Das hat mein Mann
immer so gemacht‹ und ›Deshalb musste es ja so kommen‹«, sagte Lüthje. »Hat sie
nicht zufällig noch gesagt, dass sie ihren Mann davon abhalten wollte, an
diesem Abend bei dem Schietwetter die übliche Grabkontrolle zu machen?«
»Ja, richtig, etwas Ähnliches steht in ihrem Protokoll. Soll ich es
Ihnen raussuchen?« Hoyer begann in der Akte zu blättern.
»Nicht nötig«, sagte Lüthje. »Habt ihr sonst noch etwas über Jochen
Klockemann herausgefunden?«
»Moment.« Hoyer suchte auf ihrem Computermonitor und klickte mit der
Maus. »Seit zehn Jahren geschieden. Zwei schulpflichtige Kinder aus erster Ehe.
Er ist unterhaltspflichtig und zahlt. Vor dem Familiengericht Kiel wurde ein
Vergleich wegen der Umgangsregelung geschlossen. Seit vier Jahren ist er wieder
verheiratet. Seine Frau ist fünfzehn Jahre jünger als er. Gegen ihn lief 2003
ein Ermittlungsverfahren wegen Betruges. In den Bestattungsrechnungen, die
seine Firma dem Sozialamt über Jahre hinweg berechnete, hatte sich regelmäßig
eine unberechtigte Kostenposition gefunden. Und zwar seit 1997. Es handelte
sich um einen Betrag von ungefähr sechsundfünfzigtausend Euro. Zu wenig, um
aufzufallen, hat er sich wohl gesagt. Das Geld hat er zurückgezahlt, und das Verfahren
wurde eingestellt. Er hatte argumentiert, es sei ein betriebsinternes Versehen
gewesen.«
»Wieso?«
»Weil die Buchhalterin eine Arbeitsanweisung falsch verstanden
hatte.«
»Ah ja.«
»Wollen Sie auch einen Ausdruck des Ermittlungsverfahrens?«, fragte Hoyer.
»Das behalt ich auch so«, sagte Lüthje. »Wie laufen Klockemanns
Geschäfte?«
»Harder vom Kommissariat 4 erzählte, dass seit etwa drei Jahren
mehrere Investoren auf dem Bestattungsmarkt einen immer härteren Kampf um
Marktanteile austragen. Das Ganze ist professionell und nach außen sehr seriös
aufgezogen. Man bietet Bestattern attraktive Franchiseverträge an, wie es bei
Modeboutiquen oder der Bahnhofsgastronomie üblich ist. Damit werden den
Bestattern die Einkaufsmöglichkeiten beim Großhandel für Bestattungsbedarf,
also Särge, Kerzen, Desinfektionsmittel, Sargträgermäntel und so weiter,
abgeschnitten. Das wird dann teuer. Ach ja, das Neueste soll die überregionale
Vermietung von Sargträgern sein, hat mir Harder erzählt. Das sind unterbezahlte
Männer aus dem Osten. Ohne Krankenversicherungsschutz und Sozialbeiträge für
drei Euro fünfzig pro Einsatzstunde. Die Männer werden dem Bestatter für je
zwanzig Euro vermietet, vier Mann braucht der. Damit sind die Rentner und
Sozialhilfeempfänger, die sich mit dem Job ein Zubrot verdient haben, raus aus
dem Geschäft. Die dazugehörigen Sargträgermäntel mit Handschuhen und Fußschuhen
werden dem Bestatter für je zwanzig Euro vermietet. Der Bestatter setzt dem
Auftraggeber der Beerdigung diese Posten durchschnittlich für
dreihundertfünfzig Euro in Rechnung.«
»Gefühlte Mehrwertabschöpfung heißt das, glaube ich«, sagte Lüthje.
»Sagen Sie mal, dieser Harder, war der nicht mal bei Ihnen und ist ins
Betrugsdezernat gewechselt, um
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