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Totenreigen

Totenreigen

Titel: Totenreigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Lykk
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entgegen. Sie waren vorher mit dem Fahrstuhl auf die
Aussichtsplattform gefahren. Dann entschieden die beiden Großen, dass sie nicht
mit dem Fahrstuhl fahren, sondern die Treppe hinuntergehen würden. Dabei sah man
immer in den Abgrund des Treppenhauses. Eine Marinefahne mit einem Kreuz hing
von der Decke bis zum Boden und bewegte sich im Luftzug, der durch die damals
offenen Fensterhöhlen strich.
    Es war das lange Kleid aus Lüthjes Traum.
    Dann das feine Rauschen, die menschliche Gestalt, die mit Armen und
Beinen rudernd neben ihnen im Schacht nach unten stürzte. Und das hässliche
Geräusch, das von unten zu ihm hinauf in seine Ohren kroch.
    Er hatte sich losgerissen, schrie sich die Seele aus dem Leib und
lief die Treppe hinab. Er glaubte, dass er nie unten ankommen würde. Dies war
das Ende seines kurzen Lebens. So war der Tod.
    Ein Mann war ihm von unten entgegengekommen, griff nach ihm, hob ihn
hoch und hielt ihm die Augen zu. Er ließ Lüthje erst wieder frei, als sie draußen
unter dem freien Himmel standen. Bis zuletzt hatte Lüthje geglaubt, dass dieser
Mann ihn über das Geländer werfen wollte und vielleicht der Geist des toten
Selbstmörders war. Der fremde Mann hatte ihm auf dem Weg nach unten die Augen
zugehalten, damit er am Boden des Treppenhauses den Selbstmörder in seinem Blut
nicht sehen musste. Das war ihm kurz nach dem Erlebnis damals klar geworden.
    Zu Hause hatte nie jemand mit ihm darüber gesprochen. Vielleicht
hatten sie wirklich geglaubt, er habe nichts gesehen und deshalb nichts
bemerkt. Nie hatte Lüthje etwas über den Selbstmörder erfahren. Er hatte auch
nie mehr danach gefragt. Er hatte es einfach in seinem Inneren versteckt. Bis
es heute wieder da war. Dieses Erlebnis war sicher die Wurzel seines bisher unerklärlichen
Hungers nach Wahrheit und damit seines frühen Wunschs, Polizist werden zu
wollen.
    Lüthje erhob sich und rannte die Treppen nach oben. Wie eine
Dampfwalze wollte er den Täter umrennen. Auf dem Treppenabsatz der achten
Treppe kniete Lambert auf dem Rücken von Ingrid Klockemann. Ihr Gesicht war
blau angelaufen, Speichel troff aus ihrem Mund auf den Beton und hatte eine
kleine Pfütze gebildet. Lüthje zog Lambert von ihr hoch und versuchte, ihren
Puls zu fühlen. Er war sehr schwach.
    Aber sie öffnete die Augen und zischte: »Der Teufel wird euch
holen.«
    »Zu spät«, erwiderte Lüthje. »Er hat Sie soeben gefeuert.«
    Ihr Kopf sackte zur Seite.

3.
    »Sie besteht nur aus Prellungen. Hämatome am ganzen Körper
und zwei gebrochene Rippen. Aber sie ist wieder bei Bewusstsein und schimpft
wie der Teufel, so was hab ich noch nicht gehört!«, antwortete der Notarzt, als
Lüthje ihn nach dem Zustand der Patientin fragte.
    »Passen Sie gut auf sich auf!«, rief Lüthje dem Notarzt zu, als der
wieder in den Rettungswagen stieg.
    Das Herannahen der Rettungswagen und Einsatzfahrzeuge der Polizei
hatte zum Abbruch der Generalprobe geführt. Nachdem sich schnell
herumgesprochen hatte, dass das nicht ein Inszenierungseinfall des Regisseurs
war, drängten sich ungefähr fünfzig Laboer, die die Generalprobe hatten sehen
wollen, um die Einsatzfahrzeuge, damit sie nichts von der wahren Action
verpassten.
    Iris klammerte sich an Lambert. Er hatte Kratzer auf den Armen und
im Gesicht, die aber schnell vom Notarzt mit Salbe und Pflaster versorgt worden
waren.
    Lüthje versicherte allen anwesenden Sternbergs und Lamberts Vater,
dass Lambert in Notwehr gehandelt hätte und er, Lüthje, alles tun würde, damit
Ingrid Klockemann wegen versuchten Mordes bestraft werden würde. Die
Möglichkeit einer Einweisung in die Psychiatrie erwähnte er nicht. Es reichte
ja, dass ihr mindestens die Haftstrafe sicher war.
    Iris Sternberg umarmte Lüthje und lud ihn und seine Frau zur
Verlobungsfeier ein.
    Lambert gab ihm die Hand und sagte: »Danke, Herr Lüthje.«
    Iris’ Eltern und Vater Sundermeier waren gerührt, und Lüthje
verabschiedete sich wegen dringender Ermittlungen.
    Lüthje beorderte Vehrs und Hoyer in den Dienstwagen. Vehrs setzte
sich auf den Beifahrersitz, sodass Hoyer nichts anderes übrig blieb, als hinter
ihm auf dem Rücksitz Platz zu nehmen. Zur Strafe schlug sie ihm eine Kopfnuss,
was er mit einem flehentlichen »Bitte noch einmal« kommentierte.
    Lüthje fuhr über die Bundesstraße 502. So würde er alle
Fördedörfer umgehen und in Kiel direkt auf den Ostring und den Olof-Palme-Damm
kommen, in dessen Nähe das Krematorium lag.
    »Worüber sprachen wir, als wir

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