Totenreigen
doch, dass das alles gelogen ist, Herr Sundermeier. Frau
Klockemann hat ihre Gülle auch schon bei meinen Mitarbeitern über mich
ausgekippt«, sagte Lüthje. »Was haben Sie ihr geantwortet?«
»Ich habe ihr gesagt, dass ihr Sohn Jochen Klockemann am Samstag in
das verkehrte Haus gegangen ist. Ich dachte, er hat sich im Haus geirrt.«
»In das verkehrte Haus?«
»Er ist in das Drübbisch-Haus gegangen. Da wohnt doch schon lange
keiner mehr. Es sah so aus, als ob er es eilig hätte. Ich dachte, er ist am
Haus seiner Mutter aus Versehen vorbeigelaufen.«
»Wo haben Sie gestanden, als Sie das gesehen haben?«
»Ich habe es gesehen, als ich zum Ehrenmal wollte. Ich stand in
unserer Eingangstür. Ich bin dort stehen geblieben und habe gewartet. Ich
dachte, er wird gleich wieder herauskommen, wenn er seinen Irrtum bemerkt hat.«
»Hat er Sie gesehen?«
»Nein, ich glaube nicht. Er guckte ja immer zum Boden.«
»Haben Sie gesehen, wie er ins Haus gekommen ist? War die Haustür
nicht verschlossen?«
»Nein, er hat auf die Klinke gedrückt, und sie öffnete sich. Das
fand ich auch komisch. Jeder weiß doch, dass das Haus verschlossen ist, seit da
keiner mehr wohnt. Aber dann dachte ich mir, dass er da vielleicht mit jemandem
verabredet ist.«
»Wissen Sie, mit wem?«
»Nein. Wissen Sie es?«
»Sie wissen, was dort an dem Nachmittag passiert ist?«
»Ja, natürlich. Mein Vater hat es mir erzählt, als wir die Polizei
beim Drübbisch-Haus sahen.«
»Haben Sie Ihrem Vater von Ihrer Beobachtung erzählt?«
»Ja.«
»Und wie hat er reagiert?«
»Er hat mir verboten, mit jemandem darüber zu reden. Das könnte
unser ganzes Leben durcheinanderbringen, hat er gesagt.«
»Wer weiß noch von Ihren Beobachtungen?«
»Iris. Ich habe es ihr gestern erzählt, als die Klockemann wieder
weg war.«
»Und wie hat Ihre Freundin reagiert? … Das ist sie doch, oder?«
»Wir wollen uns verloben!«, sagte er stolz.
»Meinen Glückwunsch! Ich freue mich! Was hat Ihre Freundin also zu
Ihren Beobachtungen gesagt?«
»Sie meinte, ich müsse es Ihnen erzählen. Wenn ich es Ihnen nicht erzähle, würde es mein Leben durcheinanderbringen.
Also, das ist genau das Gegenteil von dem, was mein Vater gesagt hat. Iris
sagte noch, ich solle es mir überlegen. Aber nicht zu lange. Und als ich vorhin
Frau Klockemann traf, habe ich es mir überlegt und Sie angerufen.«
»Sie haben sich richtig entschieden. Wie hat Frau Klockemann
reagiert, als Sie ihr von Ihrer Beobachtung erzählt haben?«
»Sie hat geschrien, dass ich ein Lügner und ein Teufel bin. Es war
auf dem Probsteier Platz, direkt neben dem Rathaus. Da waren Fenster auf, und
die haben das natürlich gehört. Auf dem Platz sind Leute stehen geblieben. Ich
bin dann weggegangen, aber ich hab die Klockemann noch bis in die
Friedrichstraße gehört.«
»Wo sind Sie jetzt?«
»Ich stehe vor dem Ehrenmal. Iris und ihre Eltern und mein Vater
sind schon bei der Generalprobe. Ich höre die Musik.«
Er schien sein Handy hochzuhalten. Lüthje hörte einen Fetzen
Orchestermusik und Gesang.
»Lambert? Lambert?«
»Haben Sie die Musik gehört?«
»Ja, habe ich. Ich komme zum Ehrenmal. Bleiben Sie auf jeden Fall
da! Ich komme jetzt dorthin.«
»Ich gehe jetzt ins Ehrenmal.«
»Lambert, warten Sie! Lambert?«
Er hatte das Gespräch beendet. Lüthje versuchte, ihn zurückzurufen.
Aber Lambert hatte sein Handy ausgeschaltet.
2.
Lüthje griff zum Rucksack, verließ das Haus und setzte
sich in den Wagen. Als er den Motor angeworfen hatte, fragte er sich, ob das
wirklich der schnellste Weg zum Ehrenmal war. Auf der Strandstraße bewegten
sich die Wagen im Schneckentempo. Ein Fahrzeug mit Blaulicht würde das Chaos
vergrößern, weil für den laufenden Verkehr kein Platz zum Ausweichen war. Die
Parkplätze waren belegt, auf der Promenade spazierten Fußgänger. Der Verkehr
über die Kreisstraße 30 östlich von Laboe war vielleicht nicht so dicht,
aber die Strecke bis zum Ehrenmal war doppelt so weit. Und wenn es dort gerade
einen Stau gab, müsste er das Fahrzeug stehen lassen und ein paar Kilometer zu
Fuß laufen.
Er stellte den Motor wieder ab und fuhr mit dem Fahrrad.
Hatte Lambert auch Rainer Stolze gesehen? Waren sich Jochen
Klockemann und Rainer Stolze begegnet?
Im Kassenhaus hielt Lüthje seine Dienstmarke hoch und bekam den
Metallchip für das Drehkreuz. Auf dem Vorplatz sah er kurz zur Bühne. Männer
mit künstlichen Glatzköpfen, auf denen Zöpfe aufgeklebt waren, Wächter
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