Totenreigen
in
Kunststoffrüstungen, deren behelmte Köpfe wie Boxer beim Training aussahen. Das
Orchester spielte verhalten. Ein Mann in einem orientalischen Märchenmantel sah
bittend zum Himmel, der Chor sang unerbittlich: »Wenn niemand seinen Namen
weiß, dann müssen wir den Tod erleiden!«
Die Inszenierung war in deutscher Sprache. Ein Geschenk an die
Laboer, die doch bei der Aufführung am Samstag neben den Ehrengästen die Ränge
füllen sollten.
Lüthje hielt seine Dienstmarke hoch, damit die Sicherheitsbeamten
ihn durchließen.
Als er die schwere Eingangstür des Ehrenmals hinter sich schloss,
verschwand die Geräuschkulisse, und für einen Moment war es still. Im nächsten
Atemzug hörte er Lamberts Tenorstimme. Lüthje ging durch den Vorraum zum
Fahrstuhl und drückte auf den Knopf. Der Fahrstuhl war oben. Also war Lambert
mit dem Fahrstuhl hochgefahren und von oben in das Treppenhaus
hinuntergestiegen.
Lüthje stieg die Treppen des Niedergangs hoch, bis ihm der kalte
Luftstrom sagte, dass er am Fuße des Treppenhauses angelangt war. Lambert hatte
die Arie beendet. Und begann sie nach ein paar Sekunden von Neuem,
wahrscheinlich schon zum zweiten oder dritten Mal.
Lüthje trat zurück bis zur Schachtwand, presste seinen Rücken und
die Handflächen dagegen, um den Drehschwindel zu beherrschen, der ihn erfasste,
und sah nach oben. Lambert stand in etwa vierzig Metern Höhe. Seine Hände lagen
auf dem Treppengeländer, und er sah auf die gegenüberliegende Wand des
Treppenhausschachtes.
Lüthje legte seine Hände als Sprechtüte um den Mund und rief
mehrfach Lamberts Namen. Aber sein Ruf verwehte im Treppenhaus zu einem leisen
Raunen, das von Lamberts Tenorstimme verschluckt wurde. Lüthje überlegte sich,
ob er sich nicht auf der Stelle auf den kalten Boden setzen sollte, bis Lambert
fertig war.
Er griff zum Handy, um im Büro anzurufen. Und sah dabei nach oben.
Ein Schatten erschien hinter Lambert. Sein Gesang brach ab, jemand hinter ihm
drückte seinen Oberkörper nach vorn. Lüthje sah Lamberts entsetztes Gesicht in
den Abgrund starren, und für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Lambert
klammerte sich an das Geländer, wand sich, und es gelang ihm, sich umzudrehen.
Dabei fiel er und verschwand aus Lüthjes Sichtfeld.
Lüthje lief zum Treppenabsatz und rief im Büro an.
»Vehrs hier, hallo –«
»Alarm! Ich bin im Treppenhaus des Ehrenmals. Jemand versucht,
Lambert Sundermeier in den Treppenhausschacht hinunterzustürzen. Ich versuche
hochzugehen und einzugreifen. Notarzt, Rettungswagen, Schutzpolizei, das ganze
Programm, aber fix! Wünscht mir Glück.«
Lüthje sah nach oben, um die Treppenabsätze zu zählen. Bevor er
fertig war, musste er die Augen schließen, weil ihm wieder schwindelig wurde.
Es mussten ungefähr vier Treppenabsätze sein, also acht Treppen.
Nachdem er zwei Treppen geschafft hatte, kauerte er sich auf der
Treppe zusammen und bemühte sich, ruhiger zu atmen. Von oben glaubte er ein
Husten und Stöhnen zu hören. Aber das Rauschen in seinen Ohren war lauter.
Lüthje begann auf alle vieren die Treppe hinaufzukrabbeln und
fixierte die Wand neben ihm, damit er nicht den Schacht im Augenwinkel hatte.
Am Fuße der vierten Treppe verharrte er, um Luft zu schöpfen, und dachte
darüber nach, was er oben vorfinden würde. Der Täter schien keine Pistole zu
haben. Jedenfalls hatte er sie bis jetzt nicht benutzt. Und Lüthje hatte keine
Waffe bei sich. Vielleicht hatte der Täter ihn bemerkt und würde sich von oben
auf ihn stürzen, wenn er unten am Treppenabsatz der achten Treppe erschien.
Lüthje müsste die Angriffsrichtung abschätzen, sich dann in die andere Richtung
werfen und den Angreifer im Moment der Orientierungslosigkeit unschädlich
machen. Lüthje würde sich gegen das Treppengeländer werfen. Das Geländer war
zwar aus Beton, aber würde wahrscheinlich an dieser Stelle brüchig sein und mit
ihm in die Tiefe stürzen.
Er spürte Panik in sich aufsteigen, die ihm die Kehle zuschnürte, er
rang nach Atem und riss die Augen auf. Im Augenwinkel sah er einen Schatten im
Schacht vorbeifallen. Lüthje verlor das Gefühl in seinen Gliedmaßen. Er presste
die Augen zusammen, riss sie im nächsten Augenblick wieder auf und schnappte
nach Luft wie ein Ertrinkender. Mit einem Kribbeln in den Gliedmaßen kam das
Gefühl wieder.
Er sah ein Bild aus seiner frühen Kindheit. Eine Erinnerung an
diesen Ort. Diese Treppe. Er ging zwischen seinem Großvater und seinem Vater
der Tiefe
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