Totenruhe
Monaten zu intensiv um die Wiedereröffnung des Bergfriedhofs gerungen und nun spielte ihm seine Phantasie einen Streich:
Plötzlich war es also geschehen, das Unwiderrufliche warf einen schweren Schatten auf Lindemanns Familienleben. Eben hatte der rüstige Vater noch seinen 90. Geburtstag gefeiert, begann er nun Grundsatzerklärungen abzugeben. Das sei es nun also gewesen, er habe keine Lust mehr, Hannover 96 mache auch nicht immer Spaß und im Übrigen passe ihm die ganze Richtung nicht. Welche Richtung er meinte, blieb im Verborgenen, denn drei Wochen später starb der Vater ohne nennenswertes Aufheben.
Allerdings hatte er ein Vermächtnis hinterlassen. Er wolle auf dem Lindener Bergfriedhof beigesetzt werden, nur dort und unter keinen Umständen irgendwo anders. Den Einwand, das landeshauptstädtische Friedhofsamt habe seine sterbliche Hülle fest für den großen Stadt-Friedhof im benachbarten Stadtteil Ricklingen verplant, weil sich das kostengünstiger rechne, wies er unwillig zurück. Wenn Ausland, dann könne man ihn auch gleich in Tschechien vergraben, das sei noch billiger, wie er seinem Leib- und Magenblatt entnommen habe. Das brachte Lindemann nun in arge Verlegenheit, denn das Friedhofsamt hatte in seiner rechnerischen Argumentation noch einen Zahn zugelegt. Wenn der Bergfriedhof wieder eröffnet werden müsste, verlautete aus den Amtsstuben, sei das dermaßen teuer, dass man auch gleich goldene Särge im Boden versenken könnte. Lindemann ging es allerdings gar nicht um einen Sarg. Der Vater hatte seine Einäscherung verfügt und so verblieb von ihm nur eine handliche Urne, die in einer geräumigen Manteltasche Platz hatte.
Lindemann fühlte sich eingeklemmt zwischen der amtlichen Verfügung einer städtischen Verwaltung und dem letzten Willen seines Erzeugers. Was wiegt mehr? Natürlich die amtliche Verfügung, dachte Lindemann, denn immerhin war er selbst Beamter. Daraufhin verbrachte Lindemann eine schlaflose Nacht, in der er schmerzhaft seine kulturellen Wurzeln spürte und als Lindener Urgestein versuchte, über den eigenen Schatten zu springen. Das gelang nicht.
Da Lindemann keinen offenen Affront gegen die Friedhofsamtler wagte, blieb ihm nur eine individuelle Lösung des verzwickten Problems. Freie Fläche gab es auf dem Bergfriedhof reichlich und man musste für eine Beisetzung auch keine frühblühende Scilla-Pflanze bemühen. Sein Plan verhärtete sich, nahm Form an und ließ schließlich keinen anderen Ausweg als seine Verwirklichung. Lindemann bemerkte zudem nicht unfroh: Diese Lösung war noch kostengünstiger als die Verschickung der Vorfahren nach Tschechien.
Ihre Umsetzung in die Praxis barg allerdings noch ein kleines Problem. Ungesetzliches Tun scheut üblicherweise das Licht des Tages. Allerdings lief Lindemann ein Schauer über den Rücken, wenn er an nächtliches Eindringen in die Totenstatt dachte. Sämtliche Gestalten des fernsehüblichen Nachtprogramms schienen zum Leben zu erwachen. Lindemann fühlte sich umzingelt von diversen Figuren aus dem Gruselkabinett.
Also nahm er einen Tag Urlaub und zog am späten Vormittag los. Die Urne unter dem Mantel, einen Klappspaten im Gürtel, den Hut auffällig unauffällig tief ins Gesicht gezogen.
Unweit der Integrierten Gesamtschule nahm das erste Verhängnis seinen Lauf. War es reiner Zufall oder hatte man Lindemanns Plan bereits höheren Ortes durchschaut?
Jedenfalls traf er zwei Kontaktbeamte der Polizei. Gemeinhin pflegte er ein freundschaftliches Verhältnis zu beiden, da seine kriminellen Neigungen gegen Null tendierten und er beflissen sogar das Rotlicht der Ampeln bei nächtlicher Verkehrslosigkeit achtete.
Schauten die Uniformträger diesmal nicht etwas misstrauisch, trotz des freundlichen Grußes? Verfügten sie vielleicht über unsichtbare Sichtgeräte, die ihn wie Fluggepäck durchleuchteten und dann auch das letzte am Körper verborgene Gramm Asche durch eigens trainierte Spürhunde zu Tage förderten?
Allerdings, atmete er auf, hatten die Polizisten keinen Hund dabei. Nicht einmal eine Katze, die Lindemann mit ihrem durchdringenden Blick hätte verunsichern können. Und immerhin standen die beiden auch nicht mit ihrer staatseigenen Schusswaffe vor dem Friedhofstor, um dort Sarg- und Urnenschmuggler gebieterisch den Zugang zu verweigern.
Wie das Ganze schließlich ausging? Nur gut. Lindemanns Vater durfte mit Genugtuung vom Himmel aus seine erwünschte Grabstätte in Augenschein nehmen. Sein Sohn und die
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