Totenruhe - Bleikammer - Phantom
und auch wieder nach draußen.
Konrad spürte den Drang, nach einer der Kisten zu greifen und so viele wie möglich von ihnen zu zermalmen, doch er beherrschte sich.
„Das ist eine der Truhen, die ich nicht aufbekommen habe“, bemerkte Samuel hinter ihm tonlos. „Es gibt nirgends einen Schlüssel.“
„Wenn die Käfer hineinkommen, schaffen wir das auch“, knurrte Konrad. Er brauchte nicht lange zu suchen, um ein Stück Metall zu finden, das sich als Hebel verwenden ließ. Eilig schob er es in die Öffnung, die die Tiere nutzten, und versuchte das Brett wegzubrechen. Zuerst gaben die Nägel nur ein protestierendes Knarren von sich, dann, beim fünften, sechsten Versuch, lösten sie sich. Die Latte schnappte auf.
Ein Berg von Käfern ergoss sich in die Freiheit. Offenbar war die Truhe zum Bersten mit ihnen gefüllt gewesen. Mit den Käfern kam auch noch etwas anderes. Ein Umschlag aus dickem braunem Papier. Konrad griff in die Insekten hinein und sicherte sich den Umschlag. Er war an den Ecken etwas angefressen, von Moder bedeckt und fleckig, schien aber intakt zu sein. Rasch reichte er ihn an Samuel weiter, um beide Hände freizuhaben. Nun setzte er den Hebel wieder an und brach auch die restlichen Latten der Vorderseite heraus.
Als er die Lampe näher heranbrachte, drehte sich ihm der Magen um.
„Das ist nicht möglich …“ Samuels Stimme klang brüchig wie die eines alten Mannes.
Es konnte keinen Zweifel geben: In der Truhe befand sich eine menschliche Leiche, weitgehend verwest, ein Skelett, mit kläglichen Resten von Haut, Haaren und Kleidung daran. Die Käfer umspülten es wie eine Brandung.
Dieselben Käfer, die einen Stock tiefer über Charmaines Haut flossen, jeden Fingerbreit ihres Körpers berührten und nur ihren Mund freiließen. Dieser Gedanke gab Konrad den Rest. Hatte er für einen kurzen Moment geglaubt, seinen Magen beruhigen zu können, trat dieser nun den Weg nach oben an. Der Muskelsack in seinem Inneren hüpfte bis zu seiner Lunge empor, krampfte sich dann zusammen und schoss seinen Inhalt in einer Fontäne aus der Kehle.
Samuel stolperte erschrocken die Treppe hinunter, verfehlte mehrere Sprossen und rutschte den letzten Meter hinab. Ein totenblasser Konrad folgte wenig später. Wenigstens war es ihnen beiden gelungen, ihre Lampen unter Kontrolle zu halten und so ein Feuer zu vermeiden. Und Samuel hatte den Umschlag noch bei sich.
Schwindelig tasteten sie sich über die Treppe nach unten in die Halle, setzten sich an einen Tisch, öffneten den Umschlag und begannen die Lektüre der zwei locker beschriebenen Briefseiten, die sich darin fanden.
Die Geister an der Decke waren verschwunden.
Ich bin gekommen, um Katharina zu begraben.
Was ich fand, waren viele tote Menschen, die man einfach zurückgelassen hat. Ich vermag mir nicht vorzustellen, wie sie genau zu Tode gekommen sind. Es gibt Spuren, viele Spuren, aber ich wage nicht, mir darüber Gedanken zu machen. Nur wenn ich das alles als einen tragischen Unfall sehe, kann ich sicher sein, nicht darüber den Verstand zu verlieren.
Auch dass die Toten von ihren Angehörigen nicht abgeholt wurden, kann ich nicht begreifen. In den umliegenden Dörfern spricht man von einem Fluch, der auf Falkengrund liege, und vielleicht fürchten die Menschen sich davor, sich mit den sterblichen Überresten ihrer Verwandten den Fluch ins Haus zu holen.
Sie sind alle nackt, bis auf den Baron. Warum? Welchen Sinn hat das alles?
Ich habe drei Tage hier verbracht und die Menschen begraben, gleich vor dem Haus in der feuchten Erde. Zunächst wollte ich nur Katharina die letzte Ehre erweisen, doch die Arbeit erfüllte mich, gab mir das Gefühl, etwas Wichtiges zu tun. So setzte ich sie einen nach dem anderen bei.
Lediglich den Baron begrub ich nicht. Etwas so ungeheuerlich Böses oder Abstoßendes ging selbst im Tode noch von ihm aus, dass ich es nicht fertig brachte, ihn mit einem Gebet in die Erde neben die anderen zu legen. Allerdings konnte ich ihn auch nicht einfach auf dem Fußboden liegen lassen. Also packte ich ihn auf dem Speicher in eine Kiste, möglichst weit von den anderen entfernt. Ein Tagelöhner half mir dabei. Und betrank sich hinterher. Wer immer diesen Brief liest, hat die Kiste und damit auch die Leiche gefunden.
Ich beende dieses Schreiben an Unbekannt mit der Entschuldigung, der Nachwelt etwas so Makabres hinterlassen zu haben. Ich möchte meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass der Finder ein weniger schrullenhaftes
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