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Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Totenruhe - Bleikammer - Phantom

Titel: Totenruhe - Bleikammer - Phantom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Dunkelheit empfing ihn, die seine schwach brennende Lampe nur mühsam verdrängen konnte.
    Charmaine war nicht da.
    Dafür bedeckte eine krabbelnde, wogende schwarze Schicht aus kleinen Leibern ihr Bett wie ein furchtbares amorphes Monstrum, an den Rändern ausfransend, lebendig, hektisch, in der Mitte dick und schwer und träge. Ein Teppich aus Käfern, der sich jeden Augenblick neu webte.
    Konrad schob sich in den Raum und zertrat dabei einige der Tiere.
    Dann revidierte er seine vorschnelle Feststellung.
    Charmaine war im Zimmer. Ihre Körperformen zeichneten sich stumpf unter der schwarzen Masse ab, und jetzt schaffte es das dünne Licht sogar, einen Streifen ihres Gesichts aus der Dunkelheit zu reißen. Die Käfer bedeckten ihren Mund nicht, ließen sie atmen.
    Und dieser Mund, dieser wunderschöne, sanft geschwungene Mund – er drückte nicht den Hauch einer Qual aus, zeigte keine Angst, nicht einmal Zeichen einer Hysterie oder einen Anflug von Wahnsinn. Nichts als ein zufriedenes warmes Lächeln malte sich auf diesen Lippen ab, und dieser Ausdruck war es, der Konrad von allem am meisten schockierte. Er kannte dieses Lächeln. Charmaine trug es in den Momenten, in denen sie durch und durch glücklich war.
    Sie hob ihre Hände, und sie waren schwer. Groben schwarzen Türmen gleich ragten sie aus dem lebenden Teppich heraus. Dort, an ihren Händen, saßen die Tiere in zigfachen Schichten, fielen herab und krochen wieder hinauf.
    Und dann sah Konrad die Spur. Eine Insektenstraße führte in die Zimmerecke, in ein Loch hinein.
    Der Eingang in die Wand. Der Weg zum Dachboden.
    Konrad wirbelte herum und stieß einen Schrei aus, als ein Mann vor ihm stand, eine schlecht brennende, rußende Lampe von sich streckend. Samuel. Natürlich – das Einschlagen der Tür hätte einen Toten zu wecken vermocht.
    „Nicht hinsehen“, röchelte Konrad. „Wir müssen auf den Dachboden, schnell!“ Er schob den verdutzten Samuel vor sich her. Dahinter steckte nicht nur der Wunsch, rasch auf den Speicher zu gelangen – er wollte auch verhindern, dass Samuel die Frau so sah.
    Auf den Dachboden ging es über eine Klappleiter, die man erst herunterziehen musste. In den Sekunden, während Konrad diese Vorbereitungen traf, entfernte sich Samuel einige Schritte und riskierte einen Blick hinunter in die Eingangshalle. Seine Augen waren weit aufgerissen, als er zu Konrad zurückkehrte.
    „Was ist?“, wollte der ehemalige Zauberer wissen.
    „Die Geister“, schnaufte er. „Sie …“
    Obwohl Konrads Fuß schon auf der untersten Sprosse stand, machte er noch einmal kehrt, vergewisserte sich, was der Junge gesehen hatte. Und schüttelte ungläubig den Kopf …
    Die Geister, von denen man bisher nie mehr als die Füße gesehen hatte, waren vollständig sichtbar. Nackt allesamt, mit Stricken um den Hals, die sie an die Decke fesselten. Frauen und Männer, jüngere und ältere. Obwohl ihre Köpfe schlaff herabhingen, starrten ihre gebrochenen Augen nach oben auf die Decke.
    Zum Dachboden hinauf.
    „Das ist …“ Konrad unterbrach sich. „Nein … jetzt … beginne ich zu verstehen“, stammelte er. „Dieser Spuk … die Geister … sie zeigen uns etwas … machen uns aufmerksam auf …“
    Samuel sah ihn verständnislos an.
    „… auf den Dachboden“, vervollständigte Konrad den Satz. „Sie sind da, damit wir die Blicke nach oben richten. In Richtung Speicher. Die Antwort auf das alles ist da oben.“
    „Wirklich?“ Samuel schauderte sichtlich, wurde richtig durchgeschüttelt. Vermutlich erinnerte er sich daran, wie er vor wenigen Stunden dort oben herumgestöbert hatte.
    „Gehen wir.“ Konrad fühlte plötzlich eine ungewohnte Entschlossenheit in sich. Er hatte nicht mehr als eine Spur, wusste noch nicht, was genau sich auf Falkengrund ereignete, aber das reichte ihm. Charmaines Anblick hatte ihn aufgerüttelt, zwang ihn zum Handeln.
    Die Sprossen knarrten unter seinen Füßen, als er die Leiter hektisch erklomm. Dicht hinter ihm folgte Samuel. Erst als die Lichter ihrer beiden Lampen zusammenwirkten, konnte man das Innere des Speichers gut erkennen. Möbel, Kisten, Staub und Spinnweben – daran wäre nichts Ungewöhnliches gewesen, hätte es nicht diesen glänzenden schwarzen Strom aus Käfern gegeben, der den Dachboden durchquerte und auf eine mit dick mit hellem Staub bedeckte Holztruhe zufloss. An der Vorderseite des Behältnisses wölbte sich eine Latte ein wenig heraus, und die Insekten strömten an dieser Stelle hinein

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