Totenruhe - Bleikammer - Phantom
Verhalten an den Tag legt als ich und es über sich bringt, die sterblichen Überreste des Lorenz von Adlerbrunn in ein ordentliches Grab zu legen. Nur Gott weiß, warum ich es nicht geschafft habe. Vermutlich würde man die Gründe nicht einmal verstehen, selbst wenn ich meine ganze lange Geschichte hier ausbreiten würde. Darum möge man mir verzeihen, wenn ich es nicht tue.
Im Herbst 1891, eines schrecklichen Jahres,
gezeichnet Eugen von Degenhard
„Der Baron geht auf Falkengrund um“, fasste Konrad zusammen, als sie beide den Brief gelesen hatten. „Er wurde nicht begraben und ist voller Unruhe. Die Geister der anderen hier über uns“, er suchte sie, aber es gab sie nicht mehr, „wollten die ganze Zeit über nichts anderes als uns auf ihn hinweisen. Nun, da wir ihn gefunden haben, sind sie verschwunden.“
Samuel faltete den Brief zusammen. „Ja, das mag ja alles sein, aber was ist mit den Käfern … mit den toten Tieren … mit Charmaine? Darüber steht nichts in dem Brief.“
Konrad legte die Stirn in Falten, rieb sich die geschlossenen Augen. „Es muss eine Erklärung geben. Lass mich nachdenken.“
Minuten später hatte Samuel selbst die Erklärung gefunden. Es war so einfach, wenn man es erst einmal begriffen hatte. „Niemand sehnt sich mehr nach Frieden als eine ruhelose Seele, ein Geist, der nicht sterben kann. Der Baron muss von Charmaines Fähigkeit Kenntnis haben – vielleicht hat er beobachtet, wie sie meine Hände nahm. Oder er spürt ihre Macht. Er verzehrt sich nach der Ruhe, die sie ihm schenken kann.“
Konrad nickte. Er dachte an die nächtliche Begegnung mit dem Geist und an die eindrucksvolle Demonstration seiner Macht.
„Aber Charmaine vermag nur demjenigen innere Ruhe und Frieden zu geben, den sie mit ihren Händen berühren kann. Für ein körperloses Wesen kann sie nichts tun.“
„Das tröstet mich“, konnte sich Konrad die Bemerkung nicht verkneifen.
Samuel fuhr mit seiner Erklärung fort. Seine Augen glänzten fasziniert, als er sich in die Rolle des spukenden Lorenz von Adlerbrunn versetzte. „Der Baron muss einen Weg finden, Charmaines lindernde Berührung zu erfahren. Sie ist alles, was er will. Er sehnt sich danach wie der Opiumsüchtige nach seiner Droge. Aber was soll er tun? Er hat keine stoffliche Existenz.“
„Er soll zur Hölle fahren“, sagte Konrad.
„Der Baron besitzt zwar keinen Körper, aber er verfügt über einen ungeheuer mächtigen Geist. So mächtig ist er, dass es ihm gelingt, Tieren in der Umgebung des Schlosses seinen Willen aufzuzwingen. Er leitet sie nach Falkengrund, wo Charmaine sie streicheln soll. Er hofft, auf diese Weise etwas von der heilsamen Wirkung ihrer Berührung spüren zu können.“
Konrad richtete sich auf. „Gott“, wisperte er. „Diese Tiere … zuerst das Reh, der Fuchs, der Hase …“
„Und der Ziegenbock. Lorenz von Adlerbrunn ist in ihren Köpfen, doch er bekommt ihnen nicht. Sein Einfluss zerbricht sie, sie sterben, ehe Charmaine sich ihrer annehmen und seinen Durst nach Ruhe befriedigen kann.“ Samuel malte mit seinem Fingernagel kleine runde Formen auf den Holztisch. „Bis er auf die Käfer stößt. Sie sind anders. Ihre Körper sind einfacher aufgebaut – sie haben keine komplexen Gehirne und sind daher widerstandsfähiger. Er übt eine perfekte Kontrolle über sie aus, sie folgen seinen … seinen Gedankenlinien. Gedankenlinien – ist das ein gutes Wort? Sie kriechen zu Charmaine, holen sich bei ihr die Droge, ohne die er nicht sein kann. Und sie finden den Weg auf den Speicher, wo seine Leiche liegt.“
„Dann gibt es für uns nur eines zu tun.“ Konrad sprang auf. „Wir holen nach, was dieser Eugen von Degenhard versäumt hat. Wir begraben den toten Baron in geweihter Erde. Dann findet er endlich Ruhe. Und wir auch.“
„Ich bin dabei.“ Gemeinsam kehrten sie auf den Dachboden zurück. Sie nahmen Handschuhe mit und einen Sack, um den Toten nicht anfassen zu müssen. Doch als sie ihre Lampen auf die Truhe richteten, erlebten sie eine Überraschung.
Die Leiche war nicht mehr da! Und auch von den Käfern waren nur noch einige wenige Exemplare zu sehen.
Wie von Sinnen durchkämmten sie den Dachboden, dann das ganze Haus, rissen sämtliche Türen auf, ohne Erfolg. Charmaines Hände allerdings waren noch immer von den Käfern bedeckt. Die Tiere hatten jetzt einen anderen Weg gewählt. Die Frau musste ihnen das Fenster geöffnet haben, denn sie krochen nun die Wand hinab in den Garten
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