Totenruhe - Bleikammer - Phantom
versuchte die Schaltung zu durchschauen.
„Raus hier!“, schrie eine Stimme. Eine gute Idee. Ich nehme an, der Lift war inzwischen abgefahren. In 90 Sekunden würden sie notfalls auch über die Treppe weit genug kommen, um in Sicherheit zu sein. Ein Sprengsatz in dieser Größenordnung würde das Gebäude nicht zum Einstürzen bringen. Nur in diesem Raum herrschte Lebensgefahr. Bereits im Treppenhaus konnte man davor sicher sein.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Sie gehörte Hara. „Los!“, drängte er. „Lassen Sie das liegen. Wenn wir schnell genug sind, wird es nur Sachschaden geben.“
Aber ich war kurz davor, die Schaltung zu durchschauen. „Gehen Sie schon voraus“, flüsterte ich. „Und nehmen Sie Emi mit!“
Er wollte widersprechen, aber dann sah er wohl, dass es nicht gut war, mich zu stören. Kurz darauf hatte ich das Gefühl, das Prinzip geknackt zu haben. Die Anzeige hatte bis auf 23 heruntergezählt. Ich vergewisserte mich, dass niemand mehr in meiner Nähe war. Die letzten verschwanden in diesem Moment durch die Tür ins Treppenhaus. Emi mussten sie mitgenommen haben, denn sie lag nicht mehr dort. Nun löste ich eines der Kabel und hoffte, dass es das richtige war.
Die Explosion blieb aus, die Anzeige blieb bei 18 stehen.
Ich hatte die Bombe entschärft.
Meine Knie zitterten, als ich an meinen Schreibtisch zurückging, das Telefon nahm und die Polizei rief.
8
„Und du willst wirklich nicht mit nach Deutschland kommen?“
Melanie nahm den letzten Schluck von der seltsamen Milch-Limonade namens Calpis, die süß, aber irgendwie stumpf schmeckte. Die Bedienung schenkte inzwischen Wasser nach, und Melanie griff sofort nach ihren Glas, um den Geschmack aus ihrem Mund zu spülen.
Zu dritt hatten sie das große, hauptsächlich von Jugendlichen frequentierte Café aufgesucht. Ihr gegenüber saßen Madoka und ihr Vater, Dr. Fumio Andô. Selbst jetzt, nach vier Wochen, hatte sie sich noch nicht an Madokas kurzgeschnittene Haare gewöhnt. Wenn sie sie ansah, erwartete sie noch immer, ihr Gesicht hinter dem Schleier aus dunklen Haaren verborgen zu sehen. Die Offenheit, mit der die Japanerin ihre Miene nun zur Schau stellte, kam ihr … obszön vor, als spaziere sie nackt durch die Weltgeschichte.
„Es gibt so viele Dinge herauszufinden“, erklärte Madoka. „Die Schatten – was sind sie und was wollen sie? Warum haben sie den Film an sich genommen?“
„Glaubst du, die Antworten liegen in Japan?“
„Ich glaube, dass auf Falkengrund genug Leute mit der Sache beschäftigt sein werden. In Deutschland kann ich nichts tun. Hier kann ich die Spur verfolgen.“
Melanie hatte nach ihrer Begegnung mit den merkwürdigen Schattenwesen Schloss Falkengrund angerufen und Rektor Werner Hotten die Situation beschrieben. Da in dem Rätsel um die Identität dieser Schemen noch niemand einen Schritt weitergekommen war, wurden die Telefonate, die anfangs täglich stattgefunden hatten, im Laufe der Zeit spärlicher. Man hatte sich nicht viel zu sagen. Auf Falkengrund wartete man darauf, dass Melanie und Madoka zurückkehrten.
Doch Madoka wollte lieber in Japan bleiben.
„Wenn du dein Visum überziehst, kommst du gar nicht mehr über die Grenze“, warnte Melanie. „Dann wird dein gefälschter Pass unter Garantie auffliegen.“
Madoka wirkte nicht beunruhigt. „Du vergisst, dass ich schon einmal auf einem anderen Weg nach Deutschland kam. Nach China mit dem Schiff, und dann …“
„… und dann schon wieder einen neuen Pass?“
„Mal sehen. Ich weiß nicht sicher, ob ich überhaupt nach Falkengrund zurückkehren möchte.“
Melanie biss die Zähne zusammen. Noch vor wenigen Wochen hätte sie einiges darum gegeben, dass Madoka sich in Luft auflöste. Nun waren sie Freundinnen. Und das war etwas Besonderes. Denn Freunde hatten sie beide nicht eben viele.
Dr. Andô, der die ganze Zeit über schweigend seinen Tee getrunken und den beiden Deutsch sprechenden Frauen zugehört hatte, sah auf die Uhr. „Wir müssen zum Flugplatz“, sagte er auf Englisch. „Du verpasst deinen Flieger.“
Melanie verstand. Es war noch genügend Zeit, aber das Gespräch, dessen Sprache er nicht verstand, ermüdete ihn wohl. Sie erhoben sich und gingen zur Theke, wo Andô ihre Rechnung beglich.
Als sie auf die Straße traten, erschraken sie ein wenig. Gleich vier Polizeiautos hatten so vor einem der angrenzenden Gebäude geparkt, dass der Verkehr zum Erliegen gekommen war. Offenbar war die Polizei ohne Horn
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