Totenruhe
gewesen, wenn er zur Schule gegangen wäre, statt sich in einem Gerichtssaal rumzutreiben«, sagte Yeager mit einem Seitenblick zu O’Connor. »Kinder können ziemlichen Ärger kriegen, wenn sie die Schule schwänzen.«
Jack legte O’Connor eine Hand auf die Schulter. Conn schämte sich dafür, dass er unter dieser Hand zitterte.
»Er ist ein kluger Junge«, erklärte Jack. »Warum bist du nicht auch klug, Mitch?«
Yeager nickte knapp. »Sicher. Ein kluger Mann kann auf das warten, was er will. Eines Tages wirst du erfahren, wie klug ich sein kann, Jack Corrigan.«
Er wandte sich um und ging davon.
»Wer hat es ihm gesagt?«, fragte Conn mit trockenem Mund.
»Ich weiß es nicht, Conn«, erwiderte Jack. »Könnte jemand von der Zeitung gewesen sein oder ein Cop oder jemand aus dem Büro der Staatsanwaltschaft …« Er hielt inne und seufzte. »Nein, wahrscheinlich ist es meine Schuld.«
»Ihre Schuld? Nein!«, protestierte Conn heftig. »Sie hätten mich nie bei Leuten wie Mitch Yeager angeschwärzt!«
Jack lächelte wehmütig. »Danke für dein Vertrauen, Kleiner, aber ich schätze, dass Lillian es Mitch verraten hat, nur um mir eins auszuwischen. Sie ist ein bisschen ungehalten über mich.«
»Was kümmert sie das denn? Sie ist doch jetzt verheiratet. Mit diesem reichen Linworth.«
Jack sagte nichts.
»Sie wollte eigentlich Sie heiraten«, erklärte O’Connor, weil er jetzt etwas, das ihn schon länger belastete, offen aussprechen wollte, »aber mich mag sie nicht. Wegen mir war sie sauer auf Sie.«
»Nein, Kleiner. Nein, das stimmt nicht. In Lilys Augen war
das alles nur Spiel und Spaß. Ein kleines Techtelmechtel mit dem Pöbel, weiter nichts. Sie hat mit Männern wie Mitch und mir geflirtet, weil sie das aufregend fand, aber es stand schon immer fest, dass sie Geld heiraten würde. Wenn du älter bist, wirst du das verstehen.«
»Macht Sie das nicht traurig?«
»Herrgott, nein.«
Nach einer Weile fasste O’Connor sich ein Herz und sagte: »Ich bin froh, dass Sie sie nicht geheiratet haben.«
Jack lachte. »Ich auch. Sie hat ein höllisches Temperament und ist wahrscheinlich wütend auf uns beide. Auf Mitch auch. Wahrscheinlich hat sie ihm erzählt, dass ihn ein kleiner Junge bei seinen Machenschaften ertappt hat - gut vorstellbar, dass sie das getan hat, nur um ihn auf die Palme zu bringen.«
Die Erinnerungen an die erste Zeit mit Corrigan waren bittersüß für O’Connor. Die Jahre hatten viele Veränderungen in sein Leben gebracht, teils gute, teils schlechte. Die Freundschaft mit Jack Corrigan war eine Konstante geblieben.
»Durch die besten Zeiten und durch die schlimmsten Zeiten«, sagte er leise vor sich hin.
Einer der schlimmsten Momente fiel ihm sofort ein. Jacks beinahe tödlicher Autounfall, von dem ihm das Hinken geblieben war, dessentwegen ihn die Armee abgelehnt hatte. Es hatte etwa ein Dutzend anderer dunkler Tage gegeben, aber ohne zu zögern konnte er den schlimmsten von allen nennen - den 6. April 1945.
Maureen und seine Mutter hatten beide gut bezahlte Stellen in einer kriegswichtigen Fabrik gefunden - bei Mercury Aircraft. Das hatte es der Familie ermöglicht, in ein schöneres Haus zu ziehen. Maureen arbeitete tagsüber und kümmerte sich abends um ihren Vater, während ihre Mutter in der Spätschicht beschäftigt war. O’Connor arbeitete Teilzeit, vier Abende die Woche von sechs bis elf beim Express - inzwischen
war er Redaktionsgehilfe und hatte dem Blatt sogar schon ein paar Artikel verkauft. Trotz seiner abendlichen Arbeit war er ein guter Schüler und stand kurz vor dem Abschluss. Nach wie vor hing er sehr an seiner Schwester und beschützte sie. Jeden Nachmittag, wenn um fünf Uhr Maureens Schicht endete, stand er am Tor von Mercury Aircraft und holte sie ab. Oft begleitete sie eine Nachbarin, die auch in der Fabrik arbeitete, auf dem Nachhauseweg, doch ihm gefiel es am besten, wenn sie nur zu zweit waren, ohne die Nachbarin und ohne ihre Eltern, und von der Zukunft sprechen und träumen konnten. Damals, Anfang April, taten sie das häufiger als sonst. Der Krieg ging langsam seinem Ende entgegen - die Alliierten hatten den Rhein überschritten.
O’Connor wusste, Kriegsende bedeutete, dass die Männer nach Hause kommen und ihre Jobs zurückfordern würden, womit Maureen und seine Mutter womöglich ihre Jobs verlören, doch das bedauerte er nicht. Wer konnte nach all den Kriegsjahren an so etwas denken? Wenn man die Gold Stars in den Fenstern derer hängen
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