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Totenruhe

Titel: Totenruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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wirre Entschuldigungen gestammelt hatte. Ethel war schon eine Stunde zuvor weggegangen, erklärte sie bestürzt, und zwar mit - hier hielt sie mitten im Satz inne und nannte den Namen von O’Connors Rivalen nicht.
O’Connor war seinerseits rot angelaufen und hatte lediglich hervorgestoßen: »War wohl ein Irrtum meinerseits.«
    Er war nicht gleich nach Hause zurückgekehrt, sondern zwei Stunden lang durch die Innenstadt von Las Piernas gestreunt, bevor er beschloss, seine Scham einfach wegzustecken und Maureen zu verraten, dass Ethel ihn versetzt hatte. Als er die Verandatreppe hinaufstieg, fragte er sich, wie sie wohl darauf reagieren würde. Wahrscheinlich wäre sie enttäuschter als er.
    Als er die Haustür aufmachte, sah er, dass das Haus, obwohl an diesem Abend keine Verdunkelung angeordnet war, in fast völliger Finsternis lag. Sein Vater rief verzweifelt: »Maureen! Maureen! Bist du das?«
    »Nein, Dad, ich bin’s, Conn«, rief er zurück und schaltete die Lichter an, während er auf das Hinterzimmer zuging, das für die Bedürfnisse seines Vaters eingerichtet war.
    Eine kleine Lampe am Bett bildete die einzige Lichtquelle im Raum. Sein Vater hatte sich in eine sitzende Haltung aufgerichtet, etwas, das er allein kaum schaffte, und wenn, dann nur unter heftigen Schmerzen. Kieran O’Connors Haar war silbergrau, doch als O’Connor an diesem Abend seinen Vater im Licht des dürftigen Lämpchens betrachtete, ertappte er sich zum ersten Mal dabei, wie er dachte: Jetzt ist er ein alter Mann.
    »Conn!«, stieß sein Vater in scharfem Ton hervor. »Conn, hör mir zu: Deine Schwester - sie ist nicht nach Hause gekommen.«
    »Nicht nach Hause gekommen?«, wiederholte Conn tonlos. »Maureen, nicht nach Hause gekommen?«
    Sein Vater verzog vor Schmerzen das Gesicht.
    »Dad, leg dich wieder hin. Ich hole dir was zu essen.«
    »Zum Teufel damit!«, brüllte sein Vater. »Ich mache mir Sorgen um deine Schwester, nicht um meinen blöden Bauch!« Und zu O’Connors Entsetzen brach der alte Mann in Tränen aus.

    »Dad«, sagte er, während er an seine Seite trat und ihn sachte wieder aufs Bett drückte. »Dad, nicht. Nicht. Vielleicht ist gar nichts passiert - vielleicht musste sie Überstunden machen. Ich rufe in der Fabrik an …«
    »Da habe ich schon angerufen«, erwiderte sein Vater und fuhr sich rasch mit der Hand übers Gesicht. »Es hat seit Februar keine Überstunden mehr gegeben.«
    O’Connor spürte ein kaltes Loch in der Magengrube. Maureen pflegte ihren Vater mit Hingabe. Sie würde ihn niemals allein lassen, nicht einmal ein paar Minuten, ohne dafür zu sorgen, dass sich jemand anders um ihn kümmerte.
    »Conn«, sagte sein Vater, »jetzt denk mal nicht an mich. Du musst sie suchen. Du weißt, dass sie immer sofort zu mir nach Hause kommt. Irgendetwas stimmt da nicht. Was ist - was ist, wenn sie einen Unfall gehabt hat?«
    »Ich finde sie. Ich versprech’s.«
     
    Als Erstes rief er die Nachbarin an, die sie oft auf dem Heimweg begleitet hatte. Sie war erstaunt über seine Fragen - Maureen war bis zur Ecke ihrer Straße mit ihr gegangen, ehe sie abgebogen und auf ihr Haus zugesteuert war. Andere Pläne hatte sie nicht erwähnt. Die Nachbarin hatte niemanden in der Nähe bemerkt.
    O’Connor verließ das Haus und nahm eine Taschenlampe mit. Inzwischen machte er sich große Sorgen. Er ging den Weg zwischen Straßenecke und Haus ab, wobei er zuerst nach Maureen selbst Ausschau hielt und dann den Boden nach irgendeinem Hinweis darauf absuchte, dass sie dort vorbeigekommen war, einem verlorenen Ohrring, einem Fußabdruck, irgendetwas. Er klopfte an jeder Tür, an jedem Haus, von dem aus man auf die Straßenecke oder die Straße blicken konnte, aber niemand hatte sie gesehen oder irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt.
    Langsam wurde es spät. Er ging wieder nach Hause und berichtete
seinem Vater, dass er kein Glück gehabt hatte. Dann rief er die Polizei. Außerdem verständigte er seine Mutter, die daraufhin ihren Arbeitsplatz verlassen durfte.
    Ein Streifenpolizist kam vorbei. O’Connor schätzte ihn auf etwa fünfzig. Er nahm einen Bericht auf, reagierte aber nicht aufgeregter, als wenn O’Connor ihm erzählt hätte, dass ein Auto gestohlen worden war. Eher sogar gelassener. »Ich lege es dann unter ›Vermisst‹ ab.«
    »Was soll das heißen, Sie legen es ab?«, wollte O’Connor wissen, der sich nur mit Mühe beherrschen konnte.
    »Die meisten Erwachsenen verschwinden freiwillig, Sir.«
    »Nein - das hier

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