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Totenruhe

Titel: Totenruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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Weg durch die Menge bahnten. Ob es nun daran lag, dass Jack bekannt war, oder dass keine anderen Kinder in der Nähe waren, jedenfalls wurden einige der Männer und Frauen, die aus dem Kino kamen, auf Jack und O’Connor aufmerksam. Die meisten Frauen lächelten sie an. Dann nickte Jack oder tippte an seinen Hut.
    In solchen Momenten ignorierte O’Connor die Tatsache, dass Jack nicht viel älter war als sein ältester Bruder, und fantasierte, dass Jack Corrigan sein Vater war und ihn mitgenommen hatte, um sich Die Texas-Ranger und China Clipper anzusehen, dass er der Sohn des besten Reporters auf der Welt war und alle es wussten, dass sein Vater stolz auf ihn war, und dann … und dann waren sie auch schon aus der Menschenmenge heraus, und Jack gab seine Hand frei.
    Als seine Hand aus der Corrigans fiel, musste O’Connor an seinen richtigen Vater Kieran O’Connor denken und schämte sich. Die kleine Freude des Tagtraums war vergessen.
    Corrigan fragte ihn etwas. »Entschuldigung«, sagte O’Connor. »Ich habe so laut gedacht, dass ich Sie nicht gehört habe.«
    »Ich habe gefragt, ob dir schon mal jemand Boxen beigebracht hat.«
    »Nein, Sir. Dermot hat’s mal probiert, aber ich hab’s nicht kapiert. Wenn ich mit den Händen das Richtige getan habe, habe ich mit den Beinen das Falsche gemacht.«
    »Ein verbreitetes Problem«, erwiderte Corrigan, »sogar bei den Profis.«
    Mittlerweile waren sie am Strand angelangt, und Corrigan blieb stehen, um die Schuhe auszuziehen. »Komm«, sagte er, »zieh deine auch aus. Auf dem Sand lernt es sich leichter.«
    O’Connor folgte seinem Beispiel, fröstelte jedoch, als seine nackten Füße auf den kalten Sand trafen.

    »Dir wird gleich warm«, versprach Jack.
    Der Mond schien hell auf Wasser und Sand. Jack zeigte O’Connor, wie er die Fäuste halten musste, wie er sein Gewicht in einen Schlag legen und wie er sich vor dem Gegenschlag schützen konnte. Der Sand belebte und bremste seine Füße zugleich, und zweimal, als er stolperte, dämpfte er seinen Sturz. Einige von Dermots Lektionen kamen ihm wieder in den Sinn, leuchteten ihm nun aber eher ein.
    Jack krempelte die Hosenbeine hoch, ließ sich auf die Knie fallen und hob beide Hände. »Okay«, sagte er, »und jetzt drisch auf mich ein. So fest, wie du willst.«
    Nach ein paar verhaltenen Schlägen forderte Jack: »Fester.«
    O’Connor schlug ein wenig fester zu.
    »Fester«, sagte Jack erneut. »Stell dir vor, ich wäre fies zu Maureen gewesen.«
    O’Connor begann, auf Jacks Handflächen einzudreschen.
    Nachdem er sich ein paar Minuten hatte züchtigen lassen, schrie Jack: »Okay, okay! Frieden! Ich gebe auf! Mann, morgen kann ich bestimmt keinen Bleistift halten.« Auf O’Connors entsetzten Blick hin sagte er: »War nur ein Witz, Kleiner. Nur ein Witz. Mir fehlt nichts. Und wie geht’s dir?«
    O’Connor atmete schwer, und wie Jack prophezeit hatte, war ihm von der Anstrengung warm geworden. Doch die Meeresbrise verschaffte ihm Kühlung, der Sand unter seinen Füßen war weich, und er wusste, dass er diesmal besser geboxt hatte als jemals mit Dermot. Er lächelte. »Mir geht’s gut.«
    Jack erhob sich und klopfte sich Beine und Füße ab. »Morgen folgt die nächste Lektion.«
    »Im Ernst?«
    »Na sicher. Aber probier’s nicht an jemandem aus, ehe du wirklich begriffen hast, was du da machst.«
    »Oh, ich bin sowieso nicht auf Schlägereien aus.«
    »Kleiner«, sagte Jack, als sie wieder in Socken und Schuhe schlüpften, »wenn ich glauben würde, du wärst auf Schlägereien
aus, hätte ich dir garantiert nichts übers Boxen beigebracht.«
    »Wer hat es eigentlich Ihnen beigebracht?«
    »Mein Vater.«
    O’Connor schwieg und schien auf einmal seine gesamte Konzentration für die Schuhbänder zu benötigen.
    »Hat dein Dad dir auch irgendwas beigebracht?«, erkundigte sich Corrigan.
    O’Connor blickte auf. »Na klar. Jede Menge. Als ich klein war, hat er mir gezeigt, wie man sich die Schuhe bindet. Und wenn ich groß genug bin, um mich zu rasieren, dann kann ich es schon, weil er mich immer hat zusehen lassen. Und früher hat er immer gesungen, da habe ich eine Menge Lieder von ihm gelernt.«
    Corrigan schwieg, als sie auf dem Rückweg zum Wrigley Building die American Avenue entlanggingen. Im Norden zeichneten sich als gespenstische Silhouetten im Mondlicht Hügel ab, die so voller Ölbohrtürme standen, dass sie von einem seltsamen schwarzen Wald aus identischen, blattlosen Bäumen bewachsen zu sein schienen.

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