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Totenruhe

Titel: Totenruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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erhoben sie heftigen Protest. Doch er glaubte, dass sie im Grunde ihres Herzens von seiner Schuld überzeugt sein mussten - dass sie es sich vielleicht sogar schon gegenseitig anvertraut hatten und sie nur das schlechte Gewissen veranlasste, ihm zu widersprechen. Es spielte ohnehin kaum eine Rolle, da er sich seine Schuld oft genug selbst einredete.
    Fünf Jahre lang taten O’Connor und seine Eltern so, als wären
sie eine Familie, doch Maureens Abwesenheit wurde fast zu einer stärkeren Kraft, als es ihre Anwesenheit gewesen war. Das Interesse seines Vaters am Leben jenseits seines Zimmers, etwas, das Maureen stets in ihm wach gehalten hatte, ließ mehr und mehr nach, und die letzten Reste seiner Gesundheit schmolzen damit zusammen.
    O’Connors älteste Schwester Mary, die ihren Mann im Krieg verloren hatte, zog zu ihnen, um seiner Mutter zu helfen. Seine Mutter, die genau wie sein Vater nach diesem Abend im April schlagartig zu altern begonnen hatte, war Mary für ihre Hilfe dankbar.
    Doch Mary war nicht Maureen. O’Connor fühlte sich in Gegenwart dieser pedantischen Frau nicht wohl, die siebzehn Jahre älter als er und ihm fast völlig fremd war. Was ihn am meisten störte, so gestand er sich später ein, war, dass Mary in Maureens Zimmer wohnte. Seine Mutter hatte Maureens Sachen zusammengepackt und auf den Dachboden gestellt und Mary erlaubt, in Maureens Zimmer ihre eigenen Sachen an die Wände zu hängen und in die Regale zu stellen. In O’Connors Augen hatte seine Mutter Maureen aufgegeben. Und Mary wurde von ihrem jüngsten Bruder als eine Art unberechtigter Eindringling betrachtet. Neben all seinen Vorbehalten gegen sie fürchtete er, dass durch diese Veränderungen in ihrem Haushalt eine spirituelle Verbindung zu Maureen abgebrochen war und sie ihr, indem sie ihre Sachen entfernt hatten, den Platz genommen hatten, an den sie zurückkommen könnte, sodass es ihr damit unmöglich geworden war, wieder heimzukehren.
    Jack war O’Connors Rettung gewesen. Jack hatte nämlich Mr. Wrigley, den Verleger, dazu überredet, seinen Redaktionsgehilfen zum Reporter für allgemeine Aufgaben zu befördern. Später erfuhr O’Connor, dass Jack bei diesem Vorhaben von unerwarteter Seite unterstützt worden war - nämlich von Helen Swan.

    »Ich habe dem alten Herrn die Wahrheit gesagt«, antwortete sie auf O’Connors Frage. »Ich habe ihm gesagt, dass Jack dir Schreibunterricht gibt, und falls der nichts taugen sollte, dann würde ich dir persönlich besseren Unterricht geben, weil ich nämlich sofort erkenne, wenn bei jemandem auch nur ein halber Liter Tinte in den Adern fließt - im Gegensatz zu Wrigley.«
    Er kannte niemanden, der bei Wrigley eine so dicke Lippe riskierte wie Helen Swan. Seine Ehrfurcht vor ihr blieb erhalten.
    Er hatte eine Weile gebraucht, bis er erkannte, dass unter der Rivalität zwischen Helen und Jack eine tragfähige Freundschaft bestand. Im Frühjahr 1936 verließ sie die Zeitung für etwas über ein Jahr, nicht lange nach Jacks Autounfall. Damals war O’Connor noch Zeitungsjunge gewesen und hatte mitbekommen, dass sie Jack entsetzlich fehlte.
    O’Connor war überzeugt davon, dass es ihre unermüdliche Stichelei gewesen war, die Jack aus dem schwarzen Loch herausgezogen hatte, in das er gefallen war, als er nach dem Unfall im Krankenhaus lag. »Heb mal deinen Hintern«, hatte sie bei ihrem ersten Besuch gesagt. »In einem Zimmer auf der anderen Seite des Flurs darfst du dich dann wieder draufhocken. Da liegt ein Blinder. Der kann nicht sehen, wie du dich selbst bemitleidest.« Jack war zusammengezuckt, und sie hatte mit zorniger Stimme hinzugefügt: »Na und, dann hinkst du eben. Es gibt’ne Menge Leute hier, die es härter getroffen hat.«
    O’Connor nahm seinen ganzen Mut zusammen und sagte ihr, sie solle Jack in Ruhe lassen.
    Helen starrte ihn an. Offenbar hatte sie gerade erst bemerkt, dass er im Zimmer war. »Ich dachte, im Krankenhaus sind Kinder unter sechzehn auf den Zimmern nicht erlaubt.«
    »Das stimmt«, erwiderte Jack. »Aber die Ärzte haben ein paar Untersuchungen gemacht und rausgefunden, dass O’Connor noch nie jünger war als zweiundvierzig.«

    »Na gut«, sagte sie und erhob sich, »dann beuge ich mich seinem höheren Lebensalter und tue, was Conn will.«
    »Nein, geh nicht, Swanie«, bat Jack. »Bring sie zum Bleiben, Conn.«
    Conn machte Anstalten, sie zu überreden, doch sie brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen, ehe sie sich wieder setzte und seufzte.

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