Totenruhe
»Jack Corrigan, ich weiß nicht, womit du die Loyalität dieses Jungen verdient hast.«
O’Connor war schon immer der Meinung gewesen, dass es umgekehrt war. Rückblickend staunte er über die Geduld, die Corrigan bewiesen hatte. Nicht nur einmal hatte O’Connor als Erwachsener Jack gefragt, was in aller Welt ihn bewogen hatte, ihn im Alter von acht Jahren quasi zu adoptieren, und warum er sich mit einem schmuddeligen kleinen Racker so viel Mühe gemacht hatte. Da lachte Corrigan meistens und entgegnete: » Du hast dir mich ausgesucht. Nicht umgekehrt. Genau wie bei allen Streunern - es war einfacher, dich mir nachlaufen zu lassen, als dich zu verjagen.« Es lag ein Körnchen Wahrheit in dem Scherz, fand O’Connor. Die Augenblicke, wenn Corrigan ihn angebrüllt hatte, dass er ihn verflucht noch mal in Ruhe lassen solle, seine beißende Kritik an O’Connors Schreibstil, die Phasen, in denen Jack noch mehr trank als sonst und schweigsam und abweisend wurde - nichts von alledem hatte die Macht, O’Connor lange von seiner Seite zu vertreiben.
Helen Swan hatte Recht gehabt, was den Schreibunterricht betraf. Vor Jahren, als O’Connor ihn gebeten hatte, ihm beizubringen, wie man Reporter wird, hatte Jack ihn bereits ernst genommen - aus Gründen, deren sich O’Connor nie ganz sicher war.
Schon mit acht Jahren las O’Connor auf einem Niveau, das über dem der meisten anderen Kinder seines Alters lag, und Jack begann, ihm Aufgaben zu stellen. Meist sollten sie ihn
lehren, die Zeitung im Hinblick darauf zu lesen, wie sie geschrieben war. Jack fragte ihn gelegentlich, ob er noch Tagebuch führe, wollte es aber nie lesen. O’Connor fragte ihn einmal, woher er wisse, dass er wirklich etwas hineinschrieb, da er es nie zu sehen verlangte. »Weil ich dich für einen aufrichtigen jungen Mann halte.« Das war, so wusste O’Connor, das höchste Lob, das Jack jemandem aussprechen konnte, und er hätte keine größere Belohnung für seine Arbeit bekommen können.
Denn Arbeit war es tatsächlich. Es gab Lektionen darüber, den Kern einer Geschichte zu finden und ihn in sauberer, klarer Prosa zu erzählen. Er lernte, stilistische Unterschiede zu analysieren. Jack las ihm etwas vor und verlangte, dass er ihm sagte, welcher Reporter den Artikel geschrieben hatte. Corrigans und Helen Swans Texte erkannte er mit der Zeit an ihrem Können. Andere identifizierte er oft anhand ihrer Schwächen.
Er lernte, zu beobachten und zu beschreiben, was er sah. Zuerst lieferte er seine Beschreibungen mündlich und mitunter atemlos während einer Boxstunde. Später verfasste er kleine Geschichten für Jack, der seine Gefühle nicht schonte, wenn er die Ergebnisse kritisierte.
Und so bekam Mr. Wrigley zu dem Zeitpunkt, als O’Connor sich in die Belegschaft des Express einreihte, einen Reporter, der alles andere als der Grünschnabel war, den er erwartete. Als O’Connor eines Tages in der Nachrichtenredaktion mit Helen Swan sprach, kam Wrigley zu ihnen herüber und sagte zu ihr: »Na, dann brauche ich Ihnen ja wohl kein Lehrerhonorar zu bezahlen.«
Sie lächelte und brachte O’Connor zum Erröten, als sie erwiderte: »Malen Sie sich nur aus, was er Ihnen erst in fünf Jahren einbringt. Fordern Sie diesen Jungen ordentlich, sonst können Sie seinen Namen unter Artikeln im Herald oder in der Times lesen.«
Die Herausforderung, für den Express zu schreiben, war das
Einzige, was ihn nach Maureens Verschwinden davor bewahrte, wahnsinnig zu werden. Zuerst dachte er, Jack habe vielleicht geglaubt, er brauche lediglich Ablenkung - etwas, das ihn aus seinen Grübeleien über Maureens Schicksal riss.
Doch er hatte Corrigan unterschätzt.
Jack hatte das Vorhaben, Maureen zu finden, ebenso wenig aufgegeben wie O’Connor.
Immer wieder suchten sie zusammen das Zeitungsarchiv auf und durchstöberten Meldungen über Vermisste. O’Connor hatte gestaunt, wie viele es waren.
»Zieh bloß keine voreiligen Schlüsse«, hatte Jack zu ihm gesagt. »Da sind jugendliche Ausreißer dabei und jede Menge Leute, die verschwunden sind, weil sie nicht gefunden werden wollen. Frauen, deren Männer sie geschlagen haben, Männer, die vor Schulden oder Verantwortung flüchten, Teenager, die grausame Eltern haben, Eltern, die - also, Eltern die so schrecklich sind, dass die Zeitung keine Einzelheiten darüber bringen kann.«
»Aber es muss doch ein paar vermisste Mädchen geben, die Maureen ähneln«, wandte O’Connor ein. »Sie war keine Ausreißerin, ganz
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