Totenruhe
meine ältere Schwester Barbara an. Sie war nicht zu
Hause, aber ich erreichte ihren Auftragsdienst - sie ist selbstständige Inneneinrichterin - und hinterließ eine Nachricht.
Die Stimme meines Vaters, die früher so kräftig gewesen war und alles hatte verfügen können, rief mich und war kaum mehr als ein Flüstern. Ich eilte an sein Bett.
»Barbara kommt nicht«, sagte er. »Wegen eurer Mutter.«
»Mom ist seit zwölf Jahren tot. Das kann Barbara schlecht als Ausrede anführen.«
»Deine Mutter ist an Krebs gestorben. Barbara hat Angst. Geh nicht so hart mit ihr ins Gericht.«
»Glaubst du etwa, ich hätte keine Angst?«
»Oh doch«, sagte er leise. »Und das tut mir auch Leid.«
»Dad … ich habe nicht gemeint …«
»Sei still. Du hast mehr Kelly-Blut in den Adern«, sagte er und nahm meine Hand, »darum weiß ich, dass du es verkraftest. Deshalb habe ich ja dich gerufen.«
Schweigend saßen wir da. Vermutlich hatte nichts in seinem Leben meinen Vater mehr Stolz gekostet, als mich zu bitten, aus Bakersfield zurückzukommen. Das vermittelte mir einen gewissen Eindruck davon, welch große Angst er selbst hatte. Ich schwor einen stillen Eid: Ich würde nicht mehr bei ihm über Barbara lästern.
»Ich werde jetzt einfach schlafen«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen um mich. Geh zu deiner Arbeit.«
»Dad, es ist nur eine Konferenz der Schulbehörde …«
»Es ist dein Job. Geh schon.«
Er konnte alles verfügen, selbst im Flüsterton.
»Ruf bei der Zeitung an, wenn du mich erreichen musst«, sagte ich.
»Mach ich. Versprochen.«
Kurz bevor ich ging, musste er sich erneut übergeben. Er hatte es noch aus dem Bett geschafft, und so war die Bettwäsche sauber geblieben. Ich half ihm, einen frischen Schlafanzug anzuziehen, und wischte den Boden. Ich wollte nicht gehen,
doch er erklärte, dass er, wenn ihm das nächste Mal schlecht würde, kein solcher Idiot mehr sein, sondern die Plastikwanne auf seinem Nachttisch benutzen würde, statt unbedingt aufstehen zu wollen.
»Und jetzt geh schon«, sagte er. »Tu deine Arbeit. Ich sterbe noch an Schuldgefühlen, wenn du hier bleibst.«
»Sprich nicht vom Sterben. Egal woran.«
»Geh jetzt.«
Also raste ich zu der Konferenz. Ich gestehe, dass sie mich nicht fesselte. Meine Gedanken schweiften immer wieder zu meinen eigenen Sorgen ab. Immerhin schaffte ich es, die wichtigsten der diskutierten Themen zu erfassen. Eilig fuhr ich zur Zeitung zurück.
Ich erwog, meinen Vater anzurufen, doch falls er schlief, wollte ich ihn nicht wecken.
Ich rief bei Barbara an und erreichte ein weiteres Mal den Auftragsdienst.
Mein Vater und ich wussten, dass man in einer solchen Krise nicht auf Barbara zählen konnte. Aber keiner von uns hatte damit gerechnet, dass sie eine Fähigkeit zu verschwinden entwickeln würde, die jeden Magier vor Neid hätte erblassen lassen.
Ich schrieb den Artikel über die Konferenz der Schulbehörde so schnell ich konnte und gab ihn kurz vor Redaktionsschluss ab. Dann fuhr ich nach Hause.
Mein Vater musste sich die ganze Nacht immer wieder übergeben. Irgendwann vor Sonnenaufgang nickte ich auf einem Sessel in seinem Zimmer ein.
Barbara rief mich nicht zurück, aber als ich mich gerade angezogen hatte, hörte ich ein Auto in die Einfahrt fahren. Ich sah aus dem Fenster und erwartete, ihren Cadillac zu sehen.
Stattdessen erblickte ich ein kirschrotes Mustang-Cabrio, Baujahr’68. Die Frau, die ausstieg, sah voller Verachtung zu
dem Wagen hinüber, der neben ihrem in der Einfahrt stand: mein Karmann Ghia. Ihr langes graues Haar war zu einem dicken Zopf geflochten. Sie trug Bluejeans und ein besticktes Jeanshemd.
Die Tante meines Vaters, Mary Kelly. Ich musste schmunzeln.
»Wie kommt es, dass eine Nachteule wie du schon so früh auf den Beinen ist?«, begrüßte ich sie, als ich ihr die Tür aufmachte.
»Warum bist du mich denn nicht besuchen gekommen?«, fragte sie zurück. »Vergiss es - ich weiß die Antwort schon. Bist du auf dem Sprung in die Arbeit?«
»Noch nicht.«
»Patrick hat mich gestern Abend angerufen und mir erzählt, dass seine Helferin krank ist. Ich dachte erst, er hätte dich gemeint. Freut mich, dass es nur die andere war. Ich hatte sowieso nicht das Gefühl, dass sie ihm gut tut. Soll ich für sie einspringen?«
»Mary, das ist sehr großzügig von dir, aber …«
»Aber gar nichts.« Sie sah mir direkt in die Augen und sagte: »Ich will eine Zeit lang mit meinem Neffen zusammen sein. Ich habe Patrick sehr
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