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Totenruhe

Titel: Totenruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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Die Redakteurin, die für Essen und Trinken verantwortlich war, verließ das Blatt etwa anderthalb Jahre später, und im Handumdrehen wurde Lydia befördert.
    Ich war zwei Jahre lang von Las Piernas weg gewesen. Jetzt war ich wieder da, und dank Lydias Hilfe ergatterte auch ich einen Job beim Express .
    Als ich an meinem ersten Tag die Redaktion betrat, stellte ich ohne Erstaunen fest, dass die dort Beschäftigten fast alle weiß (einzige Ausnahme war Mark Baker, ein Schwarzer) und fast alle alt waren (ich zählte vier unter vierzig, unter ihnen Mark). H. G., der Leiter des Lokalressorts, ging auf die sechzig zu. Er war ein ruhiger, zynischer Mann, der billige Zigarren rauchte und dessen zerfurchtes Gesicht nur über zwei Ausdrucksformen verfügte: Eine bezeugte seinen gewohnten Zustand unerschütterlicher, beschaulicher Gelassenheit und die andere milde, introvertierte Belustigung. Er führte mich mit ersterem Gesichtsausdruck an meinen Schreibtisch und spazierte mit letzterem wieder davon. Anlass für den Wandel könnte wohl der Schreck auf den Gesichtern seiner Kollegen gewesen sein. Der Alpha-Neandertaler, den ich später als Wildman Billy Winters kennen lernen sollte, kam zu mir herüber und sagte: »Süße, Sie sind im falschen Raum. Frauen schreiben fürs Feuilleton - am anderen Ende des Flurs.«
    Ich wollte schon etwas erwidern, als der Verleger, Mr. Winston
Wrigley II., aus seinem Büro stolziert kam und erklärte: »Sie ist hier schon richtig, Bill. Und sie ist auch nicht die erste Frau, die hier arbeitet. Fragen Sie O’Connor - Helen Swan war eine seiner Mentorinnen. Ms. Kelly hat bei Helen gelernt - und bei Jack. Für mich reicht das.«
    Ich brauchte einen Moment, bis mir wieder einfiel, dass Helen Corrigan vor ihrer Heirat Helen Swan geheißen hatte. Die journalistische Fakultät am College hatte drei oder vier frühere Mitarbeiter des Express unter ihrem Lehrpersonal. Helen war mit Abstand meine Lieblingsdozentin am Las Piernas College.
    Ein weiterer Liebling von mir war Jack Corrigan, der ebenfalls dort unterrichtet hatte. Er war sechs Monate, bevor ich beim Express anfing, an einem Schlaganfall gestorben, als ich noch in Bakersfield arbeitete. Ich hatte erst nach der Beerdigung von seinem Tod erfahren. Vor Tränen kaum imstande zu sprechen, hatte ich Helen angerufen. Sie versicherte mir, dass es schnell gegangen und er im Kreise seiner Lieben gestorben sei.
    »Jeden Morgen nach seinem fünfzigsten Geburtstag hat Jack als Erstes gesagt: ›Was für eine angenehme Überraschung‹«, erzählte sie mir. »Wahrscheinlich fand er, dass jemand, der so schonungslos lebte wie er, den nächsten neuen Tag nicht als selbstverständlich hinnehmen sollte.«
    Als ich an meinem ersten Tag in der Nachrichtenredaktion des Express an sie denken musste, nahm ich mir fest vor, sie so bald wie möglich zu besuchen.
    Meine ersten Wochen in der Nachrichtenredaktion des Express waren keine besonders glückliche Zeit. Etwa ein Drittel der Männer zeigte sich offen feindselig oder herablassend. Das Wort »Süße« hörte ich öfter als ein Zuckerbäcker. Manche, wie zum Beispiel Bill Winters, behandelten mich wie eine Besatzungsmacht und meinen Schreibtisch wie einen vom Feind eingenommenen Brückenkopf. Andere versuchten so zu tun,
als wäre ich unsichtbar. Nur wenige schienen kein Problem mit mir zu haben. Wie H. G. und der Nachrichtenredakteur John Walters lehnten sie sich gelassen zurück und beobachteten den Gang der Ereignisse, während sie mir weder halfen noch mich behinderten. Das war mir ganz recht. Für mein Gefühl unterstützte mich jeder schon genug, der mich nicht behinderte.
    Dann gab es noch die, die glaubten, der alte Wrigley habe mich eingestellt, um »die Optik aufzupeppen«, wie es einer von ihnen formulierte - unverbesserliche Lustmolche und im Allgemeinen die widerlichsten Typen im ganzen Haus.
    Auch die meisten weiblichen Mitarbeiter schlossen mich nicht gerade ins Herz. Ich traf sie regelmäßig auf der Toilette, da der Express in der Nähe der Nachrichtenredaktion kein Damenklo hatte. Suchte man dagegen eine Herrentoilette, musste man nicht einmal auf den Flur hinausgehen. Es gab nämlich eine direkt neben der Nachrichtenredaktion.
    Im ganzen Haus gab es drei Damentoiletten: eine im Erdgeschoss bei der Anzeigenannahme, wo die Belegschaft, die die Anrufe der Anzeigenkunden entgegennahm, ausschließlich aus Frauen bestand, eine oben neben den Vorstands- und Verwaltungsbüros des Blatts (wo

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