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Totenruhe

Titel: Totenruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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andere aus der Nachrichtenredaktion hätte das Gleiche über mich sagen können, und ich hätte es abgeschüttelt. Doch ausgerechnet O’Connor, der Mann, dessen Arbeiten in mir den Wunsch geweckt hatten, Reporterin zu werden, hielt mich für faul und unflätig und mutmaßte, dass ich mir den Job erschlafen hatte.
    Ich überstand die ersten Momente, in denen ich am liebsten geheult hätte. Aber das hätte nun wirklich alle meine Überlebenschancen in der Redaktion untergraben.
    Was meiner Betrübnis auf dem Fuße folgte, war Wut.
    Ich holte tief Luft und marschierte aus der Herrentoilette.
    Rückblickend bin ich froh, dass mich in diesem Moment nur zwei Leute gesehen haben und dass es von allen, die es hätten sein können, ausgerechnet Mark Baker und O’Connor waren.
    Ich erwog, O’Connor eine Kostprobe davon zu geben, wie unflätig ich sein konnte, und ihm zu sagen, dass ich all diese Wörter von seiner Mutter gelernt hätte. Stattdessen ging ich zu ihnen hinüber, würdigte lediglich Mark eines Blickes und sagte »Danke« zu ihm. Aus dem Augenwinkel sah ich O’Connors plötzlich knallrot angelaufenes Gesicht. Ich hörte noch, wie er meinen Namen rief, als ich aus der Redaktion stapfte. Ich ging weiter.
    Sowie ich außer Sichtweite war, huschte ich wie ein Hase durch die verwinkelten Flure zum Feuilleton. Lydia war noch
da und segnete die letzten Seiten für die Sonntagszeitung ab, die am Freitag gedruckt wurde.
    »Komm mal mit mir zur Damentoilette«, sagte ich. »Schnell.«
    Sie schaute verständnislos, folgte mir aber.
    »Fehlt dir was?«, fragte sie. »Du bist ein bisschen blass.«
    »Du musst mir einen Gefallen tun«, sagte ich.
    »Okay, was denn?«
    »Könntest du mir meine Handtasche von meinem Schreibtisch holen? Ich habe gerade einen großen Abgang hingelegt, und wenn ich jetzt noch mal reingehe, ist der ganze Effekt beim Teufel.«
    »Du hast gekündigt?«, fragte sie betroffen.
    »Nein. Noch nicht. Hol mir die Tasche, dann lade ich dich auf einen Drink ein … Aber nicht im Press Club«, fügte ich hastig hinzu. »Wie wär’s mit dem Stowaway?«
    »In Ordnung.« Sie wollte schon gehen, doch dann fragte sie: »Und warum hast du mich aufs Damenklo gezerrt, um mir das zu sagen?«
    »Ich mag ja vielleicht aufs Männerklo gehen, aber ich bezweifle, dass O’Connor das Damenklo aufsucht.«
    »Was?«
    »Eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir nachher bei einem Drink.«
     
    Wir verdrückten uns unbemerkt. Das Stowaway ist ein kleines, ruhiges Restaurant mit Blick aufs Meer. Ich rief Mary von dort aus an und erfuhr, dass es ihr nichts ausmachte, wenn ich erst ein bisschen später nach Hause kam.
    Beim Essen und bei ein paar Drinks erzählte ich Lydia meine Geschichte. Und erklärte meinen Helden zum Arschloch.
    »Und weißt du, was das Schlimmste daran ist? Er hat Recht.«
    Sie versuchte mir zu widersprechen.
    »Okay, ich habe nicht vor, mir seinetwegen das Fluchen abzugewöhnen,
und ich habe mit niemandem geschlafen, um den Job zu bekommen. Aber er hat Recht damit, dass meine Arbeit unausgegoren ist.«
    »Irene, wo du doch so viel anderes um die Ohren hast …«
    »Keine Ausflüchte, Lydia. Gar keine. Du hast dich weit aus dem Fenster gelehnt, damit ich beim Express eingestellt werde, und ich habe dich enttäuscht.«
    »Schwachsinn.« Für Lydia war das ein lästerlicher Fluch.
    Schweigend saßen wir ein paar Minuten da.
    »Und was willst du jetzt machen?«, fragte sie schließlich.
    »Ihm beweisen, dass er trotzdem im Unrecht ist.«

20
    O’Connor tigerte in Helen Corrigans Wohnzimmer auf und ab und zählte die zahlreichen Einwände auf, die er gegen Irene Kelly hatte. Immer wieder ertappte er sich dabei, dass er seine Klagen an einen leeren, zu dick gepolsterten Sessel richtete, der Jacks Lieblingsplatz gewesen war. Dass Jack nicht mehr da war, fachte seine Wut irgendwie noch mehr an. Wohin er sich auch wandte, hier fanden sich überall deutliche Erinnerungen an Jack. Sogar die Luft selbst gehörte dazu, denn obwohl Helen schon vor Jahren aufgehört hatte zu rauchen, hatte Jack bis zum Schluss weitergeraucht, und der Geruch seiner Zigaretten hing nach wie vor im Raum.
    Er würde - und konnte - nicht von Jack sprechen. Aber er hatte eine ganze Menge über Ms. Kelly zu sagen.
    Helen hörte sich geduldig alles an.
    »Auf dem Männerklo!«, schimpfte er und konnte es selbst noch immer nicht fassen. »Und kein Wort zu uns, um uns zu warnen, dass sie da drin ist. Sie sollte sich was schämen.«
    Helen

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