Totenschleuse
Mantel, der nach Malbeks Einschätzung die Ausgehversion eines Lotsenmantels war. Vermutlich hatte jemand dem Lotsen gewahrschaut, dass die Kripo noch an Bord sein könnte.
Als der Zwei-Meter-Mann sich mit »Lotse Klauke« vorstellte und Malbek kräftig die Hand schüttelte, hatte Malbek den Eindruck, dass eine leise, ausgleichende Bewegung durch diesen Mann ging, während seine Füße im Ausfallschritt im Decksboden festgeschraubt schienen. So als ob die schweren Stürme eines langen Seefahrerlebens ihre unauslöschlichen Spuren hinterlassen hätten.
Klauke war sehr gesprächig, den Blick wendete er nur für Sekundenbruchteile aus der Fahrtrichtung, um Malbeks Reaktionen zu beobachten. Er erzählte zunächst etwas über gefährliche Ansaugeffekte im Kanal, die durch den Gegenverkehr hervorgerufen würden und Fingerspitzengefühl erforderten. Der Kanal sei nicht die offene See, da würde so mancher erfahrene Seemann ohne Lotsen sehr schnell in der Kanalböschung landen oder eine Kollision verursachen. Dabei gestikulierte Lotse Klauke mit den Armen und schwankte wie ein Baum im Sturm, als wollte er Malbek das Unglück als Marionettenspiel vorspielen.
»Es ist zwar nicht das erste Mal, dass wir dieses Schiff lotsen, aber das Wetter und die Ladung sind jedes Mal anders, also auch die Manövrierfähigkeit. Manch erfahrener Seemann vergisst, dass da vorne im Schiffbauch weit über zehntausend Tonnen träge Masse liegen, die bei falschen Manövern das Schiff aus dem Kurs reißen«, sagte Klauke und sah kurz zum Ersten Offizier, der den Kapitän auf der Brücke vertrat.
»Wissen Sie eigentlich, was in den Containern ist?«, fragte Malbek.
»Der Kollege aus Brunsbüttel hat mich vorhin bei der Übergabe über die Gesamttonnage und das aktuelle Verhalten des Schiffes informiert. Wenn sich aus den Daten wider Erwarten ergeben hätte, dass Gefahrgut dabei ist, hätte er es mir gesagt. Das darf aber nicht aus heiterem Himmel in den Ladungsdaten stehen. Dieses Schiff ist aber auch gar nicht für Gefahrgut zugelassen. Das Gesamtgewicht der Ladung, also die Gesamttonnage, das wissen wir natürlich, um die Manövrierfähigkeit beurteilen zu können.«
»Irgendjemand muss es doch wissen, was da vor uns liegt«, sagte Malbek. Und noch einmal auf holperigem Englisch zum Offizier gewandt: »What is in the containers?«
»Nein, auch nicht der Kapitän und auch nicht die Reederei«, antwortete der Russe in erstaunlich gutem Deutsch. »Der Befrachter weiß es. Er hat es im Computer. Wir haben einen Ladeplan.«
Er ging zu einem Computerbildschirm und tippte auf die Tastatur. Malbek sah eine Grafik, die ihn an Bauklötzchen erinnerte. Ein Holzschiff, beladen mit Bauklötzchen.
»Hier sind Buchstaben und Zahlen, die sagen, wo ein Container liegt. Das ist wichtig für Containerhäfen.«
Malbek sah sich den Plan an.
»Hier sehen Sie die Stellplätze«, erläuterte der Offizier. »Es gibt für jeden Container einen Zahlen- und einen Buchstabencode. Zahlen, dann R für Right, F für Front und so weiter. Geordnet nach Lage auf dem Schiff. Zufrieden?« Er klang ungeduldig, geradezu ärgerlich.
Malbek konnte nicht sagen, dass er das System verstanden hatte, aber das Ganze war ja für die Ermittlungen irrelevant.
»Sie haben den Lotsen gehört, wir fahren kein Gefahrgut, dafür ist unser Schiff nicht zugelassen«, knarrte der Offizier, schaltete den Monitor aus und murmelte unverständliche, wohl russische Worte. Sie klangen beruhigend wie ein Schlaflied und gleichzeitig beschwörend wie ein hoffnungserfülltes Gebet.
»Das will ich meinen«, bekräftigte der Lotse mit hochgezogenen Augenbrauen, ohne seinen Blick vom Kurs zu nehmen.
Der Kanalsteurer streckte den Rücken und ließ die Schulterpartie kreisen.
»Wer belädt die Container?«, forschte Malbek weiter.
»Die Speditionen, die die Container im Hafen anliefern, oder der Versender. Das läuft überall ein bisschen anders«, sagte der Offizier.
»Also eine Frage des Glaubens«, stellte Malbek fest.
Der Offizier lächelte verschmitzt.
Es knackte, und eine Lautsprecherstimme erfüllte die Kommandobrücke.
»Hier ist Kielkanal 3 mit dem Sammelanruf. Es ist elf Uhr zwanzig. Die Verkehrslage ostwärts …«
»Die Verkehrslenkung Brunsbüttel, unser Verkehrsfunk«, sagte der Lotse und beugte sich zu Malbek vor wie eine schwankende Boje.
»… Verkehrsgruppe 4, die ›Salmaland‹ über 7610 BRZ, Tiefgang sechs Meter sechzig, um zehn Uhr vierundfünfzig ab Schleuse.
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