Totenschleuse
verkehrsreichsten Wasserstraße der Welt. In vierundzwanzig Stunden zweihundert Schiffe. Nachts der ideale Tatort. Er hatte in fast völliger Dunkelheit gelegen, da der Himmel in der Nacht stark bewölkt war. Die nächste Straßenlampe stand fast einen halben Kilometer entfernt.
Niemand konnte die Vorgänge im Gesträuch des ufernahen Bereichs beobachten. Die Männer auf der Kommandobrücke eines passierenden Schiffes mussten sich noch intensiver als bei Tageslicht auf den Kurs im Kanal konzentrieren. Die Maschine klang gedämpfter als bei Reisegeschwindigkeit auf See. Das bedeutete für die Männer von der Freiwache tieferen Schlaf, wenn sie nicht vor dem Fernseher saßen.
Der Mörder könnte dies alles in Betracht gezogen haben. Weil er sich möglicherweise mit den Gegebenheiten bei Nacht an Bord der Schiffe im Kanal auskannte. Und er hatte den Fluchtweg genau bedacht. Die Autobahnanschlussstelle Rendsburg-Büdelsdorf war mit dem Auto nur Minuten entfernt, nach Süden konnte man in fünfundvierzig Minuten an der Stadtgrenze von Hamburg sein. Oder nach Norden Richtung Flensburg, dänische Grenze. Leck, Niebüll, Dagebüll und Sylt waren nicht weit.
Ein Schuss von der gegenüberliegenden Kanalseite wäre für einen Präzisionsschützen mit der entsprechenden Ausrüstung kein Problem, auch bei Dunkelheit nicht. Aber Brotmann hatte sich auf einen Nahschuss vor dem Gesicht, von unten nach oben, festgelegt. Und darauf, dass wahrscheinlich kein Profikiller beteiligt gewesen war. Wahrscheinlich.
Trotzdem. Malbek ging mit schnellen Schritten auf die andere Seite der Kommandobrücke, bis in die Nock, und suchte mit dem Fernglas das gegenüberliegende Ufer ab. Eine Gruppe Angler stand und saß am Ufer wie so viele, die er an der Kanalböschung gesehen hatte, seit er in Rüsterbergen auf die Kommandobrücke gekommen war. Wer nicht gerade die Einsamkeit suchte, fand es in der Gruppe sicher unterhaltsamer. Wie diese Angler. Zwei von ihnen trugen Kopfhörer. Einer hatte ein Laptop auf den Knien. Hinter ihnen standen Kästen in Natogrün. Malbek presste das Fernglas an die Augen, versuchte, sich jedes Detail einzuprägen.
»Haben Sie diese Angler schon mal gesehen? Stehen die immer an der Stelle?«, fragte Malbek den Lotsen.
»Sie müssen mich entschuldigen, Herr Kommissar, es brist auf«, antwortete der Lotse und sprach leise mit dem Kanalsteurer. Er griff nach vorn zur Steuertafel und nahm die Geschwindigkeit weiter zurück. Gleichzeitig tippte der Kanalsteurer auf einige Tasten auf der Steuerkonsole.
Über dem Kanal war die Schlechtwetterfront eingetroffen, die Malbek noch vor zwei Stunden über der Nordseeküste gesehen hatte.
»Es ist zwar nur die Böenwalze einer Kaltfront, aber in einer Weiche kann es schwierig werden. Wir haben zu wenig Platz. Die Kisten bieten dem Wind viel Angriffsfläche.« Er deutete nach vorn zu den Containern. »Der Computer kann den Bug auf einen Punkt festnageln, aber das Heck wackelt wie ein Lämmerschwanz. Sie müssen jederzeit eingreifen können.«
Der Lotse sah abwechselnd auf die Instrumente und in Richtung Weichenausgang.
Der Kreuzfahrer »Heaven Of The Seas« näherte sich. Ein schneeweißes Schiff mit tausend Bullaugen und sicherlich Tausenden Menschen, von denen fast niemand an den tausend Bullaugen, Minibalkonen und Panoramafenstern zu sehen war. Die Minibalkone und Kabinen, die um Restaurants, Spielcasinos, Bars, Fitnesscenter, Jogging-Deck und Einkaufszentrum angeordnet waren, erinnerten Malbek an eine Pelztierfarm mit Käfighaltung.
»Man muss versuchen, an den Weichendalben im Schritttempo entlangzuschleichen, ohne stoppen zu müssen, und am Ende der Weiche wieder freie Fahrt zu haben. Das spart Zeit und Geld«, sagte der Lotse. »Die Weichendalben sind die Pfahlgruppen, da vorn auf steuerbord, die machen das Anlegen oder Festmachen in der Parkbucht der Weiche möglich, ohne dabei auf dem Kanalufer aufzulaufen oder eine Kollision zu verursachen. Alles klar?« Er erfreute sich offensichtlich an Malbeks unsicherem Blick.
Drei Weichendalben hatten sie schon im Schritttempo passiert.
»Was waren das für merkwürdige Angler, vor der Weiche?«, fragte Malbek wieder. »Mit Kopfhörern, Sonnen- oder Regenschirmen in Natogrün, die Angelschnüre waren fingerdick. Haben Sie die schon mal gesehen?«
»Das fragen Sie am besten Ihre Kollegen von der Wasserschutzpolizei«, antwortete er, ohne den Blick vom Kreuzfahrer zu lösen. Noch vier Weichendalben.
»Sie kennen diesen
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