Totenseelen
kaum mehr als zwanzig Jahre dort standen. Aber Luise Grönings Erzählung ließ vor Pieplows innerem Auge das Bild der sanft ansteigenden Hügel entstehen. Die Vorstellung einer Sommernacht, deren kurze Dunkelheit das Leuchtfeuer in gleichmäßigem Takt durchbricht. Und in dieser Nacht, irgendwo dort oben zwischen den Hügeln, ein Mädchen, das wie ein gefangenes Tier um sich schlägt. Das zu fliehen versucht, und, als es gehalten und getragen werden soll, seinem Retter das Gesicht zerkratzt. Das ganz plötzlich ohne allen Widerstand ist, dessen Arme erschlaffen und kraftlos herabhängen, dessen Kopf gegen die Schulter mit dem kratzigen, hastig über den Schlafanzug gezogenen Pullover sinkt und ihn mit Blut beschmiert.
»Erst hier in diesem Zimmer kam sie wieder zu sich. Niemand durfte ihr nahe kommen, niemand sie berühren. Auch meine Mutter nicht, die das Blut abwaschen und die Wunden versorgen wollte.« Luise Gröning war auf dem Weg zurück zu ihrem Platz mitten im Raum stehen geblieben. Ihr Blick wanderte über Pieplows Kopf hinweg zur Tür, am Tisch vorbei zur Couch und hinüber zu einem Sessel, in dem ein Stapel Zeitschriften lag. Pieplow hatte das Gefühl, dass sie Bewegungen und Geräuschen im Raum folgte, die nur sie wahrnehmen konnte.
»Ist sie … war sie …« Er musste sich räuspern. Seine Beklommenheit hatte sich ihm auf die Stimme gelegt. »Ich meine, was war geschehen? Ist sie überfallen worden?«
»Das kann man wohl sagen.« Luise Gröning klang bitter. »Ich bin davon überzeugt, dass sie brutal vergewaltigt worden war. Ich habe später viele ähnliche Verletzungen gesehen. Zerschundene Gesichter, Platzwunden, eingerissene Mundwinkel, zugeschwollene Augen. Aufgeschürfte Arme und Beine, an denen geronnenes Blut klebt. Und wie dieses Mädchen hat noch manche behauptet, gestürzt zu sein.«
Pieplow wusste, wovon sie sprach. Seit er auf der Insel war, hatte er solche Angstlügen praktisch nicht mehr gehört. Aber er erinnerte sich nur zu gut, wie es ihm in seinen ersten Dienstjahren in Rostock zugesetzt hatte, dass die Frauen lieber zu leiden schienen, als ihren Peiniger anzuzeigen.
Auch Luise Gröning war tief in Gedanken versunken. Erst nach einer Weile nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf. »Damals, in dieser Mittsommernacht, beruhigte sich das Mädchen erst, nachdem es genug von dem Tee getrunken hatte, den mein Vater ihr reichte.« Ein kleines, verschwörerisches Lächeln huschte über das Gesicht der Ärztin. »Laudanum, nehme ich an. Mein Vater schwor auf ein paar Tropfen Laudanum in solchen Situationen.«
Pieplow murmelte etwas, das nach »Aha« oder »Ach so« klingen sollte. Er wusste über Laudanum nur, dass es in Romanen vorkam, deren Handlung mindestens ein Menschenalter zurücklag, und dass es etwas mit Opium zu tun hatte. »Und? Haben Sie erfahren, was geschehen war?«
Luise Gröning wiegte langsam den Kopf, als erlebte sie die Ratlosigkeit jener Nacht noch einmal. »Nichts. Sie war überflutet, wie vollgesogen mit Angst. Die Bedrohung umgab sie wie eine düstere Aura, so als hinge alles, wirklich alles davon ab, dass es bei der Geschichte vom Sturz oben im Wald blieb.«
Sie hatten sie gehen lassen. Nicht nur, weil sie es so wollte, sondern weil der Arzt und seine Frau nicht daran glaubten, dass der jungen Frau Gerechtigkeit widerfahren könnte. Sie war schuldig geworden, indem sie sich greifbar gemacht hatte. Die Hure, die Hexe, die das Böse in einen anständigen Mann trieb, ihn um den Verstand brachte.
»Was ist aus ihr geworden?«, fragte Pieplow.
Luise Gröning hob die Schultern und ließ sie langsam wieder sinken. »Viel weiß ich nicht. Als wir 1946, also acht Jahre später, das erste Mal wieder hier waren, lebte sie schon in Stralsund. Ihr Mann stammte von dort. Ich meine, er hat auf der Bunkerbaustelle am Enddorn gearbeitet und wurde bei Kriegsbeginn abgezogen.«
Es war Pieplow nicht entgangen, dass etwas Wichtiges fehlte. Trotz aller Eindringlichkeit der lange zurückliegenden Bilder, trotz ihres offensichtlichen Bemühens, ihn hören und nachempfinden zu lassen, was die Menschen in diesem Raum damals erlebten, sprach Luise Gröning immer nur von dem Mädchen. Von der jungen Frau, für die mehr als ihr Leben davon abzuhängen schien, dass niemand erfuhr, was geschehen war. Gerade so, als sei sie nie dort oben im Wald gewesen, wie ein verirrtes Tier von der Herde abgesprengt und in ein Verderben gelaufen, das sie zu vernichten drohte.
Er konnte sich nicht
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