Totenseelen
Pieplow. »Apfelkuchen. Ganz frisch und selbstgebacken. Allerdings nicht von mir.«
Verstohlen sah sich Pieplow im Wohnzimmer um, während Luise Gröning mit Kanne und Tassen hantierte. Eine bewohnte Bibliothek. Bücher vom Boden bis zur Decke, rechts und links der Tür bis zu den zimmerhohen Doppelfenstern. Aufgeschlagen auf dem Tisch neben der Chaiselongue, in Stapeln auf dem Boden vor den Regalen, auf einem Teewagen neben dem schneeweißen runden Kachelofen. Ein ganzes Regal mit weiß-blauen Medizinbüchern, wie er sie aus Schrankwänden hinter Ärzteschreibtischen kannte. »Psychopathologie«, las Pieplow, »Forensische Psychiatrie«, »Abnorme Persönlichkeiten«. Wieder einmal machte er sich Gedanken darüber, wie wenig verlockend andere Berufe waren.
»In unserem Gespräch wird es um den Leichenfund am Schlesinger-Haus gehen, nehme ich an.« Keine Frage, nur eine einleitende Feststellung. Pieplow nickte. »Ich habe mir gedacht, dass Sie irgendwann kommen, und mich vorbereitet, damit Sie Ihre Zeit nicht unnütz verplempern. Es geht um das Jahr 1939, wenn ich richtig informiert bin, und gerade darüber kann ich Ihnen nichts sagen. Meine Familie ist Weihnachten 1938 emigriert.«
»Ach«, machte Pieplow und stellte unwillkürlich seine Teetasse auf den Tisch zurück, als sei er hinauskomplimentiert worden.
Luise Grönings Blick folgte seiner Bewegung. »Was nicht heißen muss, dass ich Ihnen gar nicht weiterhelfen kann«, sagte sie. »Man erfährt so manches, wenn man gut zuhört und beobachtet. Und das kann ich. Es ist schließlich mein Beruf. Oder war es, um genau zu sein.« Pause. Luise Grönings Augen ließen von Pieplow ab.
Zwei Stück Zucker, Tee umrühren. Zeit genug, um ihn bemerken zu lassen, wie angespannt er war.
»Wir, das heißt, meine Eltern, meine Geschwister und ich, sind 1938 von einer Weihnachtseinladung nach London nicht zurückgekommen«, fuhr sie fort. »Mein Vater war, ebenso wie ich später, Nervenarzt. Sie können sich vielleicht vorstellen, vor welcher Art von Arbeit er fliehen wollte, als durchsickerte, dass in der Reichskanzlei die Vernichtung seiner Patienten geplant wurde.« Sie registrierte Pieplows ernstes Nicken und trank einen Schluck Tee. »Der Sommer 1938 war also für lange Zeit unser letzter auf Hiddensee, das wir so trostlos wie nie zuvor fanden. Maschinenlärm statt Möwengeschrei, Dreck und Steine, über die in tausend Jahren kein Seegras wachsen würde. Und überall die Horden der ›Bewegung‹, wie sie im Takt ihrer furchtbaren Lieder über die unschuldige Insel trampelten. Nur wer dachte wie sie, wer mitlief, konnte sich wohl fühlen. Sonst vielleicht noch die Blinden und Dummen, zu denen mein Vater aber nun ganz gewiss nicht gehörte. Deswegen vergrub er sich in seine Bücher, wanderte nicht mehr wie sonst ganze Tage lang über die Insel, ging überhaupt nirgendwo mehr hin, nicht einmal in die Kirche. Sein tägliches Bad im Meer nahm er kurz nach Sonnenaufgang und brachte danach den Tag herum, ohne den Garten zu verlassen. Ein einsamer Mann, der schlecht schlief und deshalb stundenlang dort drüben am Fenster saß, als warte er auf das Ende der Nacht.« Sie stand auf, griff nach ihrem Stock und trat an das Fenster, von dem sie sprach. Auf Glasböden zwischen den Doppelscheiben schien Strandgut im Licht zu schweben. Bernstein, manche Stücke kinderfaustgroß, wie man sie früher noch häufiger finden konnte. Hühnergötter und hell gewaschene Treibholzskulpturen, denen das Meer ihre sanften, weichkantigen Formen gegeben hatte. »Und weil er hier saß«, knüpfte sie an, wo sie sich unterbrochen hatte, »sah er die junge Frau, von der ich Ihnen erzählen will. Sie kam aus dem Wald dort oben. Es war zwei, vielleicht halb drei in der Nacht und so dunkel, wie es im Juni hier nur in mondlosen Nächten wird. Anfangs, als sie noch weit entfernt war, glaubte mein Vater, ein Stück Wild entdeckt zu haben, das sich vorsichtig ins freie Gelände vortastete. Irgendwann holte er jedoch sein Fernglas und hatte bald keine Zweifel mehr, dass er kein furchtsames Tier, sondern einen Menschen beobachtete. Einen Menschen, der sich vorwärtsschleppte, stürzte, sich aufrappelte, wieder zusammenbrach und schließlich liegen blieb.«
Luise Gröning war an dem Fenster stehen geblieben, durch das man vor fast siebzig Jahren einen weiten Blick über das Hochland gehabt haben musste. Heute waren hinter einem hohen Heckendickicht aus Sanddorn und Rosen nur die Kronen von Birken zu sehen, die
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