Totenseelen
erzählte, bevor die Frauen aufkreuzten und ihn mit ihrer Gefühlsduselei in Beschlag nahmen.
Viel Zeit blieb ihnen nicht, weil sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitete. Bald stürmten die Kinder Richtung Hafen, Friedrichs Brüder allen voran, quer über die Wiesen am Wallweg. Im weichen, verschwimmenden Licht standen wir schließlich um ihn herum. Die Männer rauchend, schon halb wieder abseits, die Frauen in ihren Arbeitsschürzen, gerade so, wie sie aus Stall oder Küche kamen, bis Friedrichs Mutter sich bei ihm einhakte, als sei er ein erwachsener Mann, und ihn mit sich nach Haus zog.
So, mag sie gedacht haben, würde es von nun an sein. Er würde fortgehen, um nach Riga, nach Tallinn oder St. Petersburg zu fahren, und wieder zurückkommen. Zwei, drei Mal im Jahr. Als Matrose, als Bootsmann, und vielleicht, wer weiß, brachte er es tatsächlich bis aufs Achterdeck. Steuermann, Kapitän.
Clara jedenfalls glaubte daran.
Mit jedem Mal, das Friedrich zurückkehrte, wuchs ihre Gewissheit, dass es so bleiben würde. Als gäbe es ein inneres Band, das sie mit scheinbar zufälligen Blicken und Berührungen knüpften, wenn sie sich begegneten. Das von Jahr zu Jahr fester wurde, obwohl sie monatelang getrennt waren. Clara schien den Tag, sogar die Stunde von Friedrichs Ankunft zu kennen. Dabei konnte nicht einmal er selbst genau wissen, wann sein Schiff in Stralsund einlief. Wie lange das Löschen dauerte. Ob am Anleger der Hiddenseer Fischer ein Boot lag, das ihn mit nach Hause nehmen konnte. Und doch kommt es mir heute so vor, als habe sie immer schon am Bollwerk gestanden, wenn das Schiff, das ihn brachte, draußen auf dem Bodden in Sicht kam.
Ein Seemann war nicht das, was Marga Timpe sich für ihre Tochter vorstellte. Und wenn sie nörgelnd und unzufrieden bei uns in der Küche saß, nickte Mutter verständnisvoll.
»Du weißt doch, wie’s ist. Seemann, keen Mann. Oder kennst du eine, die glücklich damit ist?«
Mutter schüttelte den Kopf. Sie kannte überhaupt keine, deren Mann auf große Fahrt ging. Nur Fischer, Bauern, Handwerker, ein paar Wirte. Aber auch deren Frauen waren beileibe nicht alle glücklich.
»Und dann das Gerede! Ich weiß doch, wie sich die Leute das Maul zerreißen. Kein anständiger Mann nimmt eine, die ein Seemann sitzen gelassen hat.« Es grenzte an Verfolgungswahn, wie Marga Timpe sich und ihre Tochter von den Leuten beobachtet fühlte, die weiß Gott andere Sorgen hatten, als sich über Clara und Friedrich den Kopf zu zerbrechen.
»Niemand zerreißt sich das Maul, Marga«, versuchte Mutter sie zu beruhigen. »Und wie kann er sie sitzen lassen, wenn sie noch gar kein richtiges Paar sind? Vielleicht kommt alles ganz anders, als du jetzt denkst.« Das war so dahingesagt, eine Floskel, mit der Mutter das leidige Thema vertagen wollte. Und gewiss hat sie sich nichts dabei gedacht, als Marga mit leidvoll zusammengezogenen Brauen seufzte, der Himmel möge geben, dass es so sei.
Aber bei ihrem Mann, der, wie es sich damals bei uns gehörte, in allem das letzte Wort hatte, stieß sie mit ihren Klagen auf taube Ohren. Ihm schien zu gefallen, dass seine Clara das Zeug zu einer guten Seemannsfrau hatte. Eine, die auf ihren Janmaat warten konnte, ohne zu jammern, und sich freute, wenn er nach Hause kam.
»Abwarten soll ich, ob überhaupt was draus wird!«, ereiferte sich Marga. »Und nachher sitzt das Kind mit allem allein da. Von dem Halbwilden mal abgesehen, der alle paar Monate nach Hause kommt und sich als Ehemann aufspielt!«
Ihrem Mann gegenüber behielt Marga Timpe für sich, was ihr sonst noch auf der Zunge lag, aber Mutter vertraute sie es an. Die versoffene Heuer, die Hurerei in den Häfen. Man wusste doch, wie es unter Seeleuten zuging.
9
Das Läuten des Telefons riss Pieplow aus kurzem Schlaf. »Mahlzeit, Herr Polizeipräsident!« Unverkennbar Benzlaus anstrengender Humor. »Ich erhalte durch die Tagespresse gerade Kenntnis von Ihrer umfänglichen Ermittlungsarbeit und wollte mich nur erkundigen, wann bei mir das Fundament gesprengt wird.«
Pieplow nahm die Füße vom Tisch, ließ den Kopf ein paar Mal kreisen, um zu sich zu kommen, und schlug einen polizeipräsidialen Ton an. Befehlsgewohnt, entschlussfreudig und jovial im Dialog mit einem prominenten Medienvertreter. »Guten Tag, verehrter Herr Benzlau. Morgen, spätestens übermorgen, nehme ich an, werden wir die Sprengung durchführen«, flachste er und massierte sich die Nackenseite, die den Schlaf im Sessel
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