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Totenseelen

Totenseelen

Titel: Totenseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lautenbach
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die man hier verdienen konnte, nicht reichten. Und von zu Hause gab’s auch nichts. Nur viele Geschwister und einen Haufen Arbeit. Da hat sie ihr Glück eben woanders gesucht.« Sie hatte die Hände wieder gehoben und ihr Messer schrappte energisch über eine braune Stelle im hellen Fleisch der Kartoffel.
    »Und gefunden?« Pieplow sah, wie ihre Finger mit den tief eingegrabenen Witwenringen kurz innehielten, bevor sie antwortete.
    »Woher soll ich das wissen? Du hast doch gehört, dass Schluss war mit der Freundschaft. Sie ist ihren Weg gegangen, ich meinen. Punktum. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.«
    Pieplow hörte den Ärger in ihrer Stimme. Er sah sie die letzte Kartoffel zornig auf den gelblichen Berg werfen, der dadurch in bedenkliche Unruhe geriet. Er hörte auch, dass sie log. Oder zumindest so wenig bei einer ihm unbekannten Wahrheit blieb, dass es einer Lüge gleichkam.
    »Sonst noch was?« Sie stützte sich auf die Tischkante, um von ihrem Stuhl aufzustehen.
    Auch Pieplow erhob sich. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie klein sie war. Klein und dick, mit lieblos geschnittenem weißem Haar, durch das die Kopfhaut rosa schimmerte. Hübsch war Irma Duve wohl nie gewesen. Dazu waren die runden Augen zu klein, die Nase zu lang und zu breit, die Ohren mit den schlaffen Ohrläppchen zu groß.
    »Nur eins noch«, sagte er. »Roloff. Dietrich Roloff, kanntest du den?« Er spürte, dass sie am liebsten nein gesagt hätte. Zu plötzlich wandte sie ihren Blick ab, zu emsig hantierte sie mit dem Küchenkram auf dem Tisch.
    »Wer soll das sein?«
    »Früher ein Bauleiter vom Wasserbauamt, der hier wohl der ›Ingenieur‹ genannt wurde. Heute ein Skelett, das wir unterm Schlesinger-Haus in Kloster gefunden haben.« Damit die Versuchung, sich ahnungslos zu stellen, für Irma Duve nicht allzu groß wurde, fügte er hinzu: »Seine Verlobte war ein Mädchen aus Vitte.«
    »Ich weiß«, gab sie zu. »Clara Timpe. Aber kennen wäre zu viel gesagt. Gesehen hab ich ihn ab und zu. Mehr nicht. Er hatte es nicht so mit Bauern und Fischern, und mit Handwerkern auch nicht.«
    »Wie meinst du das?«
    Sie setzte sich wieder, als brauche sie Schonung, und wirkte mit einem Mal müde.
    »Wie ich’s sage, Pieplow. Clara und Lissi und ich waren gleich alt. Natürlich kannten wir uns. Genauso wie heute die Kinder, die zusammen zur Schule gehen, zusammen zur Konfirmation. Aber dann geht’s ans Arbeiten, ans Heiraten, ans Kinderkriegen. Da läuft manches auseinander. Die eine geht weg, die andere verlobt sich mit einem, der was Besseres ist, und man selbst hat sein eigenes Leben zu führen. Nicht mehr und nicht weniger.« Sie wischte mit der flachen Hand über den Tisch. Immer wieder über dieselbe Stelle. Dabei legte sie den Kopf schief, und der entblößte, faltige Hals wirkte so alt und verletzlich, dass Pieplow den Blick abwandte, als wolle er etwas so Intimes nicht sehen.
    »Manche hatten gar keins mehr zu führen«, sagte er in die dämmrige Küche hinein. »Diese Clara nicht und Roloff auch nicht.«
    Mit einem Ruck hob Irma den Kopf. Die Hand hörte auf zu wischen. Die Stirn wurde unwillig gerunzelt. Aber dann sagte sie nur: »Da ist wohl was dran, auch wenn’s zwei verschiedene Paar Schuhe sind.«
    »Woran ist sie überhaupt gestorben?«
    »Clara? An Lungenentzündung. So was kam vor damals. War ja alles noch nicht so perfekt mit der Medizin. Aber was bringt’s uns, in diesen alten Sachen zu graben? Was gewesen ist, ist gewesen und außerdem so lange her, dass es schon gar nicht mehr wahr ist. Deswegen ist jetzt auch Schluss mit dem Gesabbel. Deine Fragen sind beantwortet, und ich muss mich ranhalten, sonst gibt’s kein Abendbrot.«
     
    Also doch, dachte sie, während sie blicklos weiter auf die Tür starrte, die sich längst hinter Pieplow geschlossen hatte. Also doch. Sie hätte es wissen müssen.
    Es fügt sich eines zum anderen. Hier erzählt jemand etwas, dort erinnert sich einer an was auch immer. Und ehe man sich’s versieht, kommt alles ans Licht. Die Leute werden sich das Maul zerreißen. Mit Fingern werden sie auf einen zeigen und sich ins Fäustchen lachen, dass dem dummen alten Huhn doch noch der Kopf aus dem Sand gezogen wird. Dass es geradestehen muss für das, was geschehen ist. Sich nicht herausreden soll mit den Zeiten, die so ganz andere waren.

14
    Wenn man das Gewohnte aus einer fremden Perspektive betrachtet, verändert es sich von einer Minute zur anderen. Lautlos, wie von Zauberhand. Ohne dass auch nur

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