Totenseelen
hier in Uniform aufzutauchen und gleich stoffelig dienstlich zu werden. Er hätte sich Zeit nehmen sollen. Für Leonie sowieso, aber auch für Marie, damit sein Auftritt nicht wie ein Stich in frisch vernarbte Wunden wirkte. Zu spät. Ihr Misstrauen war aufgesprungen wie ein nervöses Tier, das der Verstand erst wieder zurückscheuchen musste.
»Es ist nichts, Marie. Es hat nichts mit der alten Geschichte zu tun. Gar nichts. Es geht um den Leichenfund in Kloster. Wir …« Er brach ab, weil auch das nicht ging. Ein Leichenfund war kaum das geeignete Mittel zur Beruhigung.
Seine Besorgnis erwies sich als grundlos. Ganz nüchtern, die Hände immer noch in den Hosentaschen, fragte sie: »Und was habe ich damit zu tun?«
»Du?« Es dauerte, bis er verstand, dass ihre Frage nichts mit verschlungener weiblicher Logik zu tun hatte. »Ach so, entschuldige. Du natürlich überhaupt nichts. Ich wollte mit Fine sprechen, wenn’s geht. Es sieht so aus, als gäbe es Verbindungen zwischen dem Toten und Vitte. Seine Verlobte soll von hier gewesen sein. Fine muss sie gekannt haben.«
»Verstehe. Aber was soll euch das nützen? Glaubt ihr wirklich, dass ihr den Täter jetzt noch findet? Nach all diesen Jahren?«
»Ich weiß es nicht, Marie, aber wir tun unser Bestes.«
»Du bestimmt, das glaube ich dir aufs Wort.« Jetzt lächelte sie wieder. Anders als vorhin, aber herzlich und ohne eine Spur von Ironie.
Es war einer von Fines guten Tagen. Einer ohne die bleierne Schwermut, gegen die sie so standhaft ankämpfte. Einer, an dem ihre Hände die Dinge und ihr Kopf die Gedanken wieder festhalten konnten. Dreiundneunzig Jahre sind kein Pappenstiel. Wen wundert’s, wenn da eine zittrig und brägenklöterig wird. Aber jammern kam für Josefine Gau nicht in Frage. Erstens war sie noch nie eins von den Klageweibern gewesen, und zweitens hatte sie es doch gut. Besser als manch andere, so viel stand fest. Viel besser.
Ein Tag also, der das Glück brachte, im Lehnstuhl am Fenster zu sitzen und den Blick schweifen zu lassen. Hinaus in den Garten, der ihr großer Stolz war. Der selbst in grauesten Zeiten bunt geblüht hatte, weil sie dem Sand mit allerlei Tricks den Boden abtrotzte, in dem ihre Hortensien gediehen. Noch heute blieben Urlauber stehen, um sie zu bewundern, obwohl es längst auch in anderen Gärten blühte.
»Fine?«
»Mh.«
»Geht es dir gut?«
»Siehste doch.«
»Daniel ist da und möchte gern mit dir reden, wenn es dir gut genug geht.«
»Mit mir? Und worüber?«
»Das sagt er dir besser selbst.« Marie zog die Tür ganz auf, damit Pieplow eintreten konnte. »Möchtet ihr Tee?«, fragte sie noch, dann verließ sie das überheizte Zimmer. Aus der Küche klang kurz darauf Geschirrklappern herüber und Fetzen einer Melodie. Marie sang. Was, ließ sich nicht heraushören.
Pieplow erklärte, weswegen er gekommen war. Nur das Wesentliche und langsam genug, damit Fine ihm folgen konnte.
Ihr Anblick machte ihm zu schaffen. Das unaufhörliche Reiben der Finger an den zuckenden Händen. Das Kopfwackeln. Das rhythmische Auf und Ab der Knie. Wie lange hatte er sie nicht mehr gesehen? Drei Wochen? Vier? Ihr Zustand hatte sich so verschlechtert, dass er schwarz sah für sein Anliegen. Wie sollte sie auf einer alten, vergilbten Fotografie ein kaum marienkäfergroßes Gesicht erkennen? Ganz zu schweigen von der Erinnerung an einen Namen.
Aber sie bestand darauf, das Foto zu sehen.
Es dauerte, bis es so weit war. Weil die Brille nicht ausreichte. Weil ihr das Bild aus den Händen glitt. Weil der kleine Tisch umgestellt werden musste, damit das Foto so darauf lag, dass Pieplow die Leselupe darüberhalten und Fine hindurchsehen konnte.
»Mmh«, machte sie und »tja«, lehnte sich zurück, beugte sich wieder vor. »Das könnte Lissi sein … aber genau … doch, ich glaube, das ist sie.«
Sie wirkte nach dieser Anstrengung so erschöpft, dass Pieplow ein schlechtes Gewissen hatte, als er nachhakte: »Du kennst sie also. Weißt du noch mehr als den Vornamen?«
»Lass mich nachdenken... Wo nur Marie bleibt... Tee müsste längst …« Sie schwieg, die Augen geschlossen.
Eingeschlafen, dachte Pieplow enttäuscht, aber dann überraschte sie ihn mit einem klaren Blick aus ihren fast wimpernlosen Augen. »Lambrecht«, sagte sie mit einem brüchigen Triumph in der Stimme. »Elisabeth Lambrecht. So hieß sie zumindest, als sie noch hier lebte. Ist ewig her. Es war, glaube ich, noch vor dem Krieg, dass sie weggegangen ist.«
»Wie
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