Totenseelen
– weggegangen?«
Josefine Gau hob die Schultern. So maskenhaft ihr altes Gesicht durch die Krankheit oft war, jetzt drückte es das ganze Unverständnis einer Hiddenseerin aus. Weggehen! Was für eine Schnapsidee! Sie wird es bereut haben, die Lissi. Ihr Leben lang.
Das verstand Pieplow, und deswegen musste es Gründe geben für diesen Entschluss. Aber er sah, wie das Zittern der Hände stärker wurde, sah den Schweißfilm auf der blassen Haut und wagte nicht, weiter zu fragen.
So saßen sie stumm beieinander. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, als mit einem Mal Marie in der Tür stand. Sie trug ein großes Tablett mit Tellern und Teeschalen, und es duftete nach frischem Gebäck.
»Der Apfelkuchen war noch nicht fertig, deshalb hat’s länger gedauert. Dafür gibt es ihn jetzt noch warm mit …« Sie brach ab und stellte hastig das Tablett auf den Tisch. »Was ist?«, fragte sie und legte Fine eine Hand auf die Stirn.
»Nix ist«, sagte ihre Tante unwillig. Aber die beruhigende Hand durfte bleiben, wo sie war.
»Ich geh jetzt wohl besser.« Betreten sah Pieplow, was er mit seiner Fragerei angerichtet hatte.
»Schade«, sagte Marie. »Ich hätte gern mit euch Tee getrunken, aber vielleicht … Sie verträgt Aufregung schlecht, weißt du, und dann …«
»Es tut mir leid, wirklich. Ich wollte nicht … ich dachte nur …«
»Papperlapapp! Das gibt sich auch wieder.« Josefine Gau brachte es fertig, trotz ihrer schwachen Stimme energisch zu klingen. »Außerdem weiß Irma über Elisabeth viel besser Bescheid. Geh und red mit ihr.«
Pieplow sah fragend zu Marie.
»Irma Duve, ein Stück die Straße runter.« Sie wies nach rechts Richtung Norderende. »Warte, ich bring dich noch zur Tür.«
»Grüß Leonie«, trug Pieplow ihr auf, bevor er ins Freie trat. »Ich besuche sie, sobald es geht. Versprochen.« Er hob zwei Finger zum Indianerehrenwort.
Marie griff nach seiner Hand und hielt sie fest. »Von dir hat sie das also! ›Esprochen‹ sagen und die Schwurhand heben. Nur, dass es bei ihr noch alle fünf Finger sind, die sie nach oben reckt.«
Sie ließ seine Hand wieder los, was Pieplow bedauerlich fand. »Bei Indianern unter drei gilt das noch«, sagte er und dachte dabei an Leonies rundliche Hände mit den Grübchen dort, wo die Finger an den gut gepolsterten Handrücken ansetzten.
»Ich fürchte, du hast dir mehr erhofft«, sagte Marie in seine Gedanken hinein.
Verwirrt sah Pieplow sie an. Erhofft? Wovon? Am besten erstmal leugnen. Egal, was. »Ach wo«, sagte er und machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Ist doch in Ordnung so.«
»Wenn du willst, spreche ich noch mal mit Fine. Wir haben eine eigene Weise, miteinander zu reden. Eine, bei der sie erzählen kann, ohne dass es sie zu sehr anstrengt. Aber das braucht mehr Zeit, als du dir wohl nehmen kannst. Morgen bin ich in Kloster, dann könnte ich dir sagen, ob ich noch etwas in Erfahrung gebracht habe. Sagen wir, gegen fünf? Oder bist du dann noch nicht zu Hause?«
So, schoss es Pieplow durch den Kopf, fühlt sich ein Herzstillstand an. Kribbeln, Stechen, Sieden. Wie mit Vollgas ungebremst in den Nebel.
»Doch, doch. Auf jeden Fall. Passt ganz prima. Also, bis morgen, Marie!« Er war überrascht, wie gelassen er sich anhörte. Geradezu souverän. War das im Adrenalinschock so? Artikulierte man klar und flüssig, weil die Hirnregionen, in denen die Zweifel, das Zögern, die Skrupel saßen, einfach ausgeschaltet waren? Weil nur noch Wunsch und Traum funktionierten?
Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er eine Menge guter Ideen brauchte, um sich abzulenken. Um sich nicht immer wieder auszumalen, wie Marie vor seiner Tür stand. Wie er sie hereinbat und zur Seite treten musste, damit sie beide in seinem handtuchschmalen Flur Platz hatten. Am besten, er würde vorangehen. Vielleicht scherzhaft »Folgen Sie mir unauffällig« sagen und so die Unhöflichkeit kaschieren, dass er einer Dame den Vortritt nahm.
Oder sich doch besser ganz an die Wand drücken, damit sie sich, seinem hinweisenden Arm folgend, an ihm vorbeiquetschen konnte.
»Moin, Pieplow! Na, wisst ihr mehr inzwischen?« Erwin Schulte, unterwegs zum Nachmittagsschnack, riss ihn aus seinen Überlegungen.
»So gut wie nix, Erwin. Erstmal abwarten, was die Gerichtsmedizin sagt.«
Erwin Schulte nickte sachverständig. »Is klar.« Das konnte dauern. Besonders wenn die Leiche schon älter war. Wusste man schließlich alles aus dem Fernsehen. Er zog seines Weges an
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