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Totenseelen

Totenseelen

Titel: Totenseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lautenbach
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schleuderten sie steinerne Kolosse wie Kiesel ins Meer. Unaufhörlich. Unbeirrbar. Obwohl sie doch sehen mussten, dass Gliedmaßen aus den Hohlräumen zwischen den Gesteinsbrocken ragten. Arme, Beine, weiß, blutig. Manche noch zuckend, wenn der tonnenschwere Granit sie traf und zerquetschte. Ihm blieb nichts, als ohnmächtig zuzusehen, während er zu versinken drohte, weil sich dort, wo er stand und schrie, der Boden gurgelnd und schmatzend mit Wasser vollsog.
    Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis er sich an die Oberfläche seines Bewusstseins gekämpft hatte, nur um festzustellen, dass es weiter gurgelte und schmatzte. Pieplow brauchte zwei, drei Minuten, bevor er die Ruhe spüren konnte, die von dem satten, gleichmäßigen Herbstregen auf das Strohdach ausging.
    Schweißnass und frierend saß er auf seiner Bettkante und blinzelte hinüber zur Uhr. Halb fünf. Früh genug, um etwas gegen den Schmerz zu tun, der von innen gegen seine Stirn pochte, und danach vielleicht noch eine Mütze erholsameren Schlafs zu bekommen.
    Ohne Licht zu machen tapste er, eine Hand auf den Schädel gepresst, über den Flur in die Küche. Dass auf halbem Weg das Bier stand, das ihm nicht mehr geschmeckt hatte, bedachte er ebenso wenig, wie den Aschenbecher neben Benzlaus Sessel. Schales Rostocker Pils mischte sich mit der Asche zerfledderter Zigarilloreste und floss als grauer Brei über die Teppichkante.
    Na prima, dachte er, während er zwei Tabletten hinunterwürgte. Dieser Murphy war nur zuerst da gewesen. Eigentlich müsste es Pieplows Gesetz heißen. Nicht nur zwei Stunden Arbeit für die Katz, jetzt auch noch verranzter Spelunkengestank, gegen den keine Rose der Welt ankommt. Erst recht nicht die mickrigen Dinger von Benzlaus Spalier.
    Im Morgengrauen machte er sich auf den Weg an den Bodden. Weil aus dem erholsameren Schlaf nichts geworden war. Weil im Bett zu liegen die Gedankenschraube nach unten drehte, bis sich vor lauter Sinnlosigkeit das Aufstehen kaum noch lohnte. Weil er vor langer Zeit schon gelernt hatte, was es hieß, wenn er sich so fühlte – und was dagegen zu tun war.
    Er musste sich entscheiden.
    Entweder nichts mehr tun. Keine Gedanken mehr wälzen, keine Fragen mehr stellen. Sich nicht von qualligen Ahnungen bedrängen lassen, sondern das machen, wofür er bezahlt wurde. Gerade, saubere Polizeiarbeit. Klare Aufträge, für die es weder Ehrgeiz noch Intuition brauchte. Erst recht kein spitzfindiges Philosophieren über die Folgen des eigenen Tuns.
    Oder handeln und den Ahnungen eine Richtung geben. Vermutungen zulassen, Verbindungen herstellen. Schlüsse ziehen und beweisen.
    Die Insel lag still, als wartete sie mit angehaltenem Atem auf den Tag. Der Bodden glatt gezogen zwischen den Wettern, das eine nach Westen davongeweht, das andere aus Osten noch nicht herangekommen. Das Wasser im ersten Tageslicht grau und glänzend wie geölter Stahl.
    Pieplow stand bewegungslos, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, die Augen in den Himmel zwischen Nacht und Tag gerichtet. Er ließ die Gedanken schweifen und sich über die Zeit spannen, bis der Mann auftauchte, der vor mehr als siebzig Jahren hierhergekommen war.
    Es gilt, einen Damm zu bauen, ein Bollwerk gegen die Gewalt der See, solange noch Männer da sind, die diese schwere Arbeit tun können. Raue, grobe Männer, die mit eiserner Hand geführt werden müssen, weil sie nichts haben als tags diese Arbeit und nachts den Rausch, der ihnen das Leben in den Baracken erträglich macht.
    Ein Mann in seinem, Pieplows, Alter. Groß, schlank, sehr korrekt mit Anzug und Krawatte. Ein guter Tänzer mit schönen Händen, auf den die Frauen ein Auge werfen, auch wenn es schon längst eine Braut gibt. Er stellt etwas dar, hat eine wichtige Aufgabe. So bedeutend ist er, dass er für einen Ingenieur gehalten wird. Er lässt die Leute in diesem Glauben. Es schmeichelt seiner Eitelkeit, seinem Wunsch, ein mächtiger Mann zu sein. Einer, der anordnen, befehlen, strafen kann.
    Fast zwei Jahre ist er hier, macht seine Arbeit, geht zum Tanz, verlobt sich.
    Zwei Jahre, in denen ein Unglück nach dem anderen geschieht.
    Ein Mädchen taumelt verletzt und geschunden durch die Nacht. Elche zertrampeln ein elfjähriges Kind.
    Eine junge Frau verlässt für immer die Insel, und eine andere stirbt, bevor sie die Frau ebendieses Mannes werden kann.
    Am Ende trifft es ihn selbst, der sich so viel von der Insel erhofft hat. Ansehen. Erfolg. Und das Glück, das er Monate vor seinem eigenen

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