Totenseelen
der Kaufhalle vorbei Richtung Hafen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Beinahe hätte Pieplow ihn zurückgehalten. Er musste Elisabeth Lambrecht genauso gekannt haben wie alle anderen hier. Warum also nicht ihn fragen, wo sie sich sowieso gerade über den Weg liefen?
Sei es aus Respekt vor Fines Mühe, ihm einen Namen zu nennen, sei es, um den Alten bei seinem vorgebeugten, schlurfenden Gang nicht aus dem Tritt zu bringen – Pieplow rief ihn nicht zurück. Stattdessen machte er selbst eine Kehrtwende. Nach wenigen Schritten stand er vor dem Haus von Irma Duve, das genau genommen ihrem Sohn gehörte. Mit warmer Hand gegeben, wie sie gern sagte, und dabei verschwieg, wie lange er sie deswegen bekniet hatte. Dass er jetzt, wo alles unter Dach und Fach war, auch ordentlich zupackte, zeigte die Baustelle, vor der Pieplow stand. Giebel und Dach verbreitern, den Schuppen sanieren und mit dem Haus verbinden, ein Anbau hinten hinaus in den Garten. Mauern und Putzen nach Feierabend, Innenausbau im Winter. Werner Duve hatte sich viel vorgenommen. Er setzte einen Fuß gerade auf die unterste Sprosse seines Gerüsts, als Pieplow mit der Gartentür quietschte.
»Was willst’n du?« Werner Duve hielt inne. Der Fuß blieb auf dem Gerüst, der Eimer mit dem breiigen, grauen Putz schwankte in seiner Faust.
»Mit deiner Mutter sprechen, wenn sie da ist.«
»Wieso’n das?«
»Es geht um früher. Um die Zeit vorm Krieg.«
»Wegen der Sache in Kloster?«
»Genau.«
»Na, dann. Sie ist drinnen.« Eine Kopfbewegung wies Pieplow den Weg. »Wahrscheinlich in der Küche. Geradeaus über die Diele, genau gegenüber der Haustür. Kannste gar nicht verfehlen.« Werner Duve hatte zu tun, und Neugier war seine Sache nicht. Er machte sich, den Eimer sorgfältig austarierend, an den Aufstieg hinauf zum Giebel.
Sogar im Haus hing der muffige Geruch von Zement und gab ihm etwas Unfertiges, obwohl in der dunklen, niedrigen Diele schon alles neu war: das Laminat, auf dem Pieplows Schritte klackten, die Tapeten an den Wänden zwischen den Zimmertüren aus Nussbaumnachbildung.
Er klopfte dort, wo die Küche sein musste, und wurde hereingerufen.
»Nanu, die Staatsgewalt?« Irma sah ihm über ihren Brillenrand aus wässrigen hellen Augen entgegen. »Was verschafft mir die Ehre?« Es klang spöttisch und schroff zugleich. Abweisender, als Pieplow es gewöhnt war.
»Ehre, dem Ehre gebührt.«
»Blödsinn. Und komm du mir nicht mit der Bibel.« Was Irma Duve in ihrem Leben an Gottesdiensten ausgelassen hatte, war nicht der Rede wert, und so war es zwangsläufig, dass sie ihren Römerbrief kannte. Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Tust du aber Böses, so fürchte dich, denn sie trägt das Schwert nicht umsonst …
»Setz dich hin und sag, was du willst.« Irma fischte die nächste Kartoffel aus dem Korb neben sich, setzte ihr gebogenes schmales Messer an und fügte dem kleinen Haufen Kartoffelschalen vor sich eine weitere hauchdünne Spirale hinzu.
»Kartoffelpuffer?«, fragte Pieplow. Der Berg faustgroßer Kartoffeln, Reibe und Schüssel ließen kaum einen anderen Schluss zu.
»Allerdings. Aber du bist ja wohl nicht hier, um dich nach unserem Abendessen zu erkundigen.«
»Nein, deswegen«, sagte Pieplow und schob das Bild über den Tisch. »Angeblich weißt du über dieses Mädchen am besten Bescheid.« Sein Zeigefinger tippte über dem blonden Lockenkopf auf das vergilbte Papier.
»Wer sagt das?« Ein schneller, kurzer Blick auf das Foto, ohne dass die Schalenschnecke Schaden nahm.
»Ooch«, machte Pieplow gedehnt. »Wir haben die letzten Tage mit vielen gesprochen, und dabei fiel hin und wieder dein Name.« Er sah sie treuherzig an. Alles rein informativ, sagte sein Blick. Kein Grund, sich aufzuregen oder sich gegen ein paar Fragen zu sperren.
Ihre Hände sanken in den Schoß. Links die Kartoffel, rechts das Messer. Sie nickte. Hatte sich also doch der eine oder andere erinnert.
»Wir waren befreundet, Lissi und ich, das stimmt. Aber nur, bis sie weggegangen ist. Achtunddreißig, glaube ich, war das. Danach nicht mehr. Du weißt ja, wie’s ist: Aus den Augen, aus dem Sinn.«
Jetzt war es an Pieplow zu nicken. »Wenn du mit ihr befreundet warst, weißt du wohl auch, warum sie fortgegangen ist und wohin«, sagte er so beiläufig wie möglich, während er die Fotografie scheinbar zerstreut vor sich hin und her schob.
»Sie ist nach Rostock gegangen. Wegen Geld, nehm ich doch an. Weil ihr die paar Kröten,
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