Totenseelen
ahnte.
Sie sprach nicht von Clara. Wenigstens nicht nur. Sie meinte vor allem auch Lissi. Lissi, die niemand an die Kandare nahm. Die wie ein Schmetterling über die Insel flatterte. Glücklich, unbeschwert, ohne Blick dafür, dass die Leute immer öfter die Köpfe zusammensteckten.
Das Zimmermädchen und der Kaufmannssohn.
Man müsste es dem alten Lambrecht stecken, bevor das Mädchen Fisimatenten machte.
Er liebt mich, sagte sie und glaubte daran.
Warum sonst, wenn nicht aus Liebe, war er nach einem eisigen Winter mit der ersten Wärme zurückgekehrt und hatte in der Dunkelheit auf sie gewartet?
»Erlauben Sie, dass ich Sie ein Stück begleite?« Die Frage kannte sie und auch seine Art, eine Verbeugung anzudeuten. Neu war, dass er ihr wie selbstverständlich den Arm bot. Lachend hakte sie sich unter. Sie glaubte, seinen Herzschlag an ihrem Arm zu spüren, so nahe waren sie sich.
Nichts hatte er vergessen. Nach den Zwillingen erkundigte er sich, nach den Brüdern und der Aalfischerei und freute sich mit ihr, dass der Vater, nun, wo es aufwärtsging, genug Arbeit hatte. Was Festes sogar, solange der Damm gebaut wurde.
Wir heiraten, sagte sie am Ende des Sommers und glaubte auch das.
Nur den Winter mussten sie noch überstehen. Dann hatte er zu Ende studiert. Dann konnte ihm keiner mehr Vorschriften machen. Wen er liebte, zum Beispiel, oder wo er sich die Hörner abstieß. Das ging dann endlich niemanden mehr etwas an, und wen er heiratete, war ganz allein seine Sache.
Es war Herbst, so wie jetzt, als sie sich zum letzten Mal sahen. Sie haben den Winter nicht überstanden.
Ich gäbe etwas darum, es damit gut sein zu lassen. Die Bilder nicht länger anzusehen, die uns die Erinnerung präsentiert. Denn die düstersten hebt sie sich auf bis zum Schluss.
16
»… best years of my life …« Aus dem Badezimmerfenster scholl Benzlaus Gesang durch den Garten. Laut, falsch, voller Inbrunst. »… summer of sixtynine …«
Von den Vier-Uhr-Nachrichten aus seinem Küchenradio bekam Pieplow nur die Hälfte mit, während er die Spuren der vergangenen Nacht beseitigte. Kippen, Flaschen, Aschefleck. Als Benzlau nach dem Duschen Musik und Stimme auf Zimmerlautstärke drosselte, sah alles wieder so passabel aus, dass Pieplow sich in seinen Sessel fallen ließ und eine halbe Stunde Nichtstun zwischen den Tag und Maries Besuch schob. Er saß einfach nur da und sah in den klaren, kräftig blauen Himmel, durch den seit dem Morgen so viele Vogelschwärme gezogen waren, als hätten sich alle gleichzeitig zum Aufbruch entschlossen.
Pieplow konzentrierte sich auf das Lockende, Drängende in ihren heiseren Rufen, um sein Herz nicht zu spüren, das ihm dumpf gegen die Rippen schlug.
Was, wenn sie gar nicht kam? Immerhin war es bald fünf, und es musste jeden Augenblick an der Haustür klingeln. Wenigstens aus Höflichkeit könnte sie pünktlich sein, auch wenn sie mit noch so Aufregendem beschäftigt sein mochte.
Er stand auf, hantierte mit Tassen und Filter und Kaffee, füllte Sahne ab und stellte Zucker bereit.
Kaum saß er wieder, fiel ihm ein, dass sie vielleicht lieber Erfrischendes wollte. Wasser, Saft. Tranken Frauen wie sie nachmittags Bier? Er rüstete sich für diesen Fall und stellte ein paar Flaschen kalt, von denen er die erste um Viertel nach fünf selbst in der Hand hielt, weil er sich ärgerte. Darüber, dass sie nicht gekommen war, und noch mehr darüber, dass sie es nicht einmal für nötig gehalten hatte abzusagen.
Er setzte die Flasche an, trank in langen Zügen und verschluckte sich fürchterlich, als es klingelte. Benzlau, dachte er verdrossen, der ein Abonnement auf vermasselte Feierabendbiere zu haben scheint. Hustend, mit rotem Kopf ging er zur Tür.
»Hallo, Daniel«, sagte sie, als er öffnete. »Störe ich?«
»Nein, nein. Ich dachte nur … ich meine, weil du schon …« Sein Husten ging in einen Schluckauf über und er nickte nur, als sie erriet, was er sagen wollte.
»Ich weiß, ich bin ein bisschen spät dran, aber es ging nicht eher.«
»Macht doch nichts«, versicherte Pieplow und trat zur Seite. »Komm rein, Marie.«
Sie wollte tatsächlich ein Bier. Kein Glas. Gleich so aus der Flasche. Ganz selbstverständlich entschied sie sich für seinen Sessel, so dass er den anderen erst zum Terrassenfenster ziehen musste. Schließlich saß er seitlich von ihr und konnte ihr Profil betrachten, auf das durch die Scheiben rötliches Nachmittagslicht fiel.
Wenn sie trank, legte sie den Kopf weit
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