Totenseelen
mal mit deiner Mutter sprechen.«
»Komm wann anders wieder. Der geht’s nicht gut. Ist ja wohl auch kein Wunder, wo ihr jetzt den ganzen alten Mist wieder aufrührt.«
Aus der Tiefe des Hauses wurde »Werner, was ist denn?« gefragt. An der Stimme ließ sich nicht erkennen, ob Frau Duve senior oder junior das wissen wollte. Die Art, wie Werner hastig »Nichts!« über die Schulter zurückrief, erinnerte Pieplow an Schuljungen, die abends an der Haustür Verbotenes ausbaldowerten. Prompt erschien der fisselige Schopf von Irma Duve.
»Ach, du«, sagte sie nur und, schon halb wieder ins Haus gewandt: »Komm rein.«
Pieplow registrierte, dass sie ihn nicht ins Wohnzimmer führte, sondern auf eine angelehnte Tür seitwärts in einem schmalen Gang zwischen Küche und Hinterausgang zeigte. »Geh schon mal rein und setz dich irgendwo hin. Ich hole uns was zu trinken.«
In ihr Altenteil hatte Irma Duve zu Bett und Nachtschrank alles gestopft, was ihr etwas bedeutete. Tisch und Sessel, daneben ein Stuhl für den Fall, dass Besuch kam. Die Nähmaschine am Fenster musste mindestens so viele Jahre auf ihrer buckligen Holzhaube haben wie die Frau, die schon ein Leben lang darauf nähte. Ein hoher Spiegel, viel zu wuchtig für den niedrigen Raum, und eine Kommode aus glänzendem dunklem Holz, auf deren polierter Fläche eine Bildergalerie mindestens vier Generationen Duves zeigte. Frauen in knöchellangen üppigen Röcken und fein gefalteten Blusen neben ihren knorrigen Männern in Weste und weißem Hemd über der derben, weiten Hose. Brautpaare zwischen einschüchternd dreinblickenden Schwiegereltern. Ein dickes blondes Kind im Matrosenanzug. Drei junge Frauen, vor einem Haus, das Pieplow nicht kannte. Die rundliche, kleine, einen Schritt abseits der anderen, war zweifellos Irma Duve.
»Ganz recht. Das sind wir. Links Clara, in der Mitte Lissi, rechts ich. 1937 war das. Und jetzt komm her und setz dich hin, damit wir es hinter uns bringen, weil du sonst ja doch keine Ruhe gibst.«
Pieplow nahm auf dem Besucherstuhl Platz, ließ sich Tee einschenken, mühte sich mit der Zuckerzange ab und wartete darauf, dass Irma Duve den Anfang machte, aber diesen Gefallen tat sie ihm nicht.
»Als ich gestern hier war, hast du mir nicht alles gesagt, was du weißt«, begann er und wartete auf ein Zeichen, dass sie dieser wohlwollenden Version zustimmte. Sie gab es, indem sie den Kopf ein wenig seitwärts neigte.
»Inzwischen wissen wir, dass Lissi fortging, weil der Vater sie, so muss man es wohl sagen, aus dem Haus geprügelt hat.«
Nicken.
»Weil sie schwanger war und den Vater des Kindes nicht nennen wollte.«
»So war’s, ja.«
Pieplow meinte, ihre Anspannung körperlich zu spüren, ihren Wunsch, er möge gehen und sie in Frieden lassen, auch wenn sie es gewesen war, die ihn ins Haus gelassen hatte.
»Warum nicht? Hätte der Schlesinger-Sohn nicht zu ihr gestanden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie konnte nicht. Sie konnte nicht sagen, wer der Vater des Kindes war, weil sie es nicht wusste.«
Daran, dass Pieplow mit einer schnellen, kaum sichtbaren Bewegung den Kopf ein wenig hob, dass seine Augen sich erstaunt eine Spur weiteten, konnte sie erkennen, wie überrascht er war. Er schien sogar heute noch, wo es in diesen heiklen Dingen so ganz anders zuging, etwas von der alten Ungeheuerlichkeit zu ahnen.
»Du denkst jetzt wahrscheinlich, sie ist vor der Schande davongelaufen, und hast damit sicher auch Recht. Aber das war’s nicht allein. Auch nicht die Angst, der Vater könnte sie totschlagen, obwohl nicht viel daran gefehlt hätte. Geflohen ist sie vor dem, der ihr das angetan hat. Dem, der eines Abends im Herbst in der Dunkelheit auf sie wartete und so höflich fragte, wie sie es von Richard kannte: ›Gestatten Sie, dass ich Sie begleite?‹«
Sogar den Hut zieht der Ingenieur, bevor er neben sie auf den Sandweg tritt und seine Hand vertraulich um ihren Arm legt, als würden sie sich seit langem kennen. Ihr ist die Berührung unangenehm. Sie weicht ihr aus, macht einen Schritt zur Seite und verzichtet artig dankend auf seine Begleitung. Zu eilig habe sie es und für einen Spaziergang überhaupt keine Zeit. Sie geht schneller. Er lässt ihr wie die Katze der Maus einen Vorsprung. Als er das nächste Mal neben ihr auftaucht, ist die Hand an ihrem Arm nicht mehr vertraulich. Sie ist hart und brutal und zwingt sie vom Weg weg hinter niedriges Strauchwerk.
Nur ein Mal schreit Lissi. Sie hört die Stimmen der Männer
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