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Totenseelen

Totenseelen

Titel: Totenseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lautenbach
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lief nicht nur die Nase. Auch in den rötlichen Buchten der schlaffen Unterlider sammelte sich Flüssigkeit. Lambrecht kramte nach einem Taschentuch.
    Pieplow wartete, bis Lambrecht genug geschnäuzt und gewischt hatte, bevor er nach dem Kindsvater fragte.
    Lambrechts Gesicht bekam einen verächtlichen Ausdruck. »Gute Frage! Kann ich aber leider nicht beantworten. Sie hat’s nämlich nicht sagen wollen. Ums Verrecken nicht. Hätte sich eher totschlagen lassen.« Lambrecht schwankte, so gewaltig brandete plötzlich die Erinnerung an. Er griff nach dem Rechen, mit dem er die kleineren Zweige zusammenharkte. Die hölzernen Zinken drückten das Gras flach, als er mit beiden Händen den Stiel umfasste und sich schwer darauf stützte.
     
    Dabei hatte er sich nicht erinnern wollen. Nie mehr. Wozu auch? Was gewesen ist, ist gewesen. Ändern lässt sich nichts und ungeschehen machen auch nicht.
    Nur die eigene Ohnmacht immer wieder erleben, das Gefühl, sich gleich in die Hosen zu pissen vor Angst. Spüren, wie Wut und Tränen nach draußen drücken, bis es rund um die Augen schmerzt, als müssten sie aus dem Kopf platzen, das hält keiner aus.
    Am besten vergisst man das Schreien und Poltern. Das dumpfe Klatschen der Schläge und den Schrecken beim Anblick der Schwester. Wie ihr das Blut aus der Nase rinnt. Aus dem Mund und einmal sogar aus dem Ohr. Und am Morgen ist ihr Kissen rostrot durchtränkt.
    Da ist es schon besser, die Lissi ist weg. Prügel gibt’s nun wieder wie immer, wenn einer was ausgefressen hat. Das Geschrei ist vorüber, es ist sogar stiller als jemals zuvor, weil die Mutter nur noch das Notwendigste spricht – ja, nein – und gar nicht wieder froh werden kann. Am fröhlichsten ist sowieso die Lissi gewesen. Ihr Lachen – einmalig. Nie wieder hat er so ein Lachen gehört. Außer im Traum noch manchmal. Irgendwann ist auch das vorbei, und er ist froh drum, denn immer tut sein ganzer Körper weh, wenn er wach wird und Lissis Lachen geträumt hat.
    Aber das war lange her, sein ganzes Leben, könnte man sagen, und ging niemanden etwas an. Und die Polizei schon mal ganz und gar nicht.
     
    »Was ist aus dem Kind geworden?« Pieplow musste die Frage zum zweiten Mal stellen, damit der Alte aus seinen Gedanken aufschrak.
    »Welchem Kind?« Die Stimme klang brüchig.
    »Sie sagten, Lissi sei schwanger gewesen, als sie fortging«, wiederholte Pieplow geduldig.
    »Keine Ahnung.« Schulterzucken.
    »Haben Sie nicht wenigstens einen Namen, eine Adresse? Möglicherweise …«
    »Ich sag doch: nein! Findet’s raus, wenn’s euch interessiert. Ihr seid doch die Schnüffler, nicht ich. Und jetzt mach, dass du Land gewinnst. Ich hab zu tun.« Er drehte sich um und schlurfte Richtung Erlenbruch, wobei er den Rechen achtlos hinter sich her schleifte.

    Der Qualm, der mit dem Gebrummel tiefer Männerstimmen aus dem offenen Fenster der Wache waberte, ließ auf einen mittleren Schwelbrand schließen. Pieplow schwante, was ihn erwartete, und er hätte am liebsten kehrtgemacht, runter zum Hafen, Licht und Sauerstoff tanken, fügte sich dann aber doch in sein Schicksal.
    Drei von denen, die Karl Lambrecht die Quassler nannte, saßen in trauter Runde im Dienstzimmer. Een Weck, Mall Breker, Erwin Schulte, der ohne Ökelnamen auskommen musste. Auch ohne Tabak, seit der Doktor ihm das Priemen verboten hatte.
    »Moin, Pieplow!« Mall sprach, die anderen nickten. »Ok eenen?« Der knittrige Kopf mit den langen gelben Zähnen nickte zur Schnapsflasche neben den unausgefüllten Berichtsformularen auf Kästners Schreibtisch.
    »Nee, lass man.«
    »Polizeiobermeister Pieplow trinkt nicht im Dienst«, frotzelte Kästner, für den offenbar kein Schnapsglas mehr übrig gewesen war, und prostete Pieplow mit seinem Kaffeebecher zu. Aber als Een die Flasche ein weiteres Mal rundgehen ließ, winkte auch Kästner ab.
    »Wir sind mitten in der Zeugenvernehmung zur Person des feinen Herrn Roloff«, klärte er Pieplow auf. »Muss ein ziemlicher Schinder gewesen sein.« Zustimmendes Nicken in der Runde. »Hohes Plansoll. Jeden Tag und bei jedem Wetter. Wer nicht parierte, flog raus. Wer krank war, auch, selbst wenn er auf der Baustelle verunglückt war.«
    »Gab’s öfter«, stimmte Erwin Schulte zu. »Zwischen den Steinen war schnell mal’n Fuß zerquetscht. Zwei Tonnen Granit, da bleibt nicht viel über. Meine Schwägerin, die hat …«
    »Ist doch egal jetzt. Hier geht’s um was ganz anderes«, schnitt Mall ihm das Wort ab.
    »Ach, und um

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