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Totenseelen

Totenseelen

Titel: Totenseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lautenbach
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bei den Baracken und hofft, dass sie kommen, um sie zu retten.
    Er presst ihr die Hand auf den Mund und zischt ihr ins Ohr: »Schrei ruhig! Schrei, damit sie kommen und zusehen, wie du’s mit jedem treibst, der dich hart genug rannimmt.«
    Von da an bleibt sie stumm. Sie erträgt, dass er wie ein Berserker über sie herfällt. Wie ein Wahnsinniger, den es anstachelt, dass ganz in der Nähe andere Männer sind. Dessen Geifer ihr das Gesicht besudelt. Der sie eine Hure schimpft. Eine, die kriegt, was sie verdient, genau wie die anderen, die sich nächtens herumtreiben. Denen er besorgt, worauf sie es anlegen mit ihrem geilen Getue.
    Er packt ihr Haar und reißt ihren Kopf nach hinten. Er zwingt sie Dinge zu tun, bei denen der Ekel ihr die Kehle zuschnürt. Nicht nur hier und jetzt. Ihr Leben lang wird Übelkeit in ihr aufsteigen, wenn die Bilder wie Blitze aus dem Vergessen aufschießen, wenn etwas die Erinnerung reizt. Ein Geruch. Ein Geräusch. Oder eine Stimme, die nach Rohheit klingt, nach Gewalt und der Verachtung, mit der er sagt: »Ein Sterbenswörtchen, und ich vernichte dich. Dich und deine verkommene Sippe!«
    Er steht auf, und sie kauert vor ihm und hofft, dass es wirklich vorüber ist. Dass er endlich mit seiner Kleidung fertig wird, an der er zupft und herumklopft, damit der Sand herausfällt.
    Sie schnappt nach Luft, als er sich wieder zu ihr hinabbeugt. Beinahe hätte sie doch noch aufgeschrien. Aber er greift nur nach dem Hut, der hinter ihr liegt, hält ihn kurz, wie zum Gruß über der Stirn und höhnt: »Mit den besten Empfehlungen an die reizenden Schwestern, Gnädigste.«
     
    Irma Duve ahmte die Bewegung nach, mit der ein Mann den Hut lüftet und mit geneigtem Kopf den Oberkörper vorbeugt. Ihr Gesicht kam weit zu Pieplow hinüber. »Jetzt weißt du, warum Lissi nicht wusste, von wem sie schwanger war. Vielleicht hat das Schwein es sogar darauf angelegt. Hat sie belauert und gewusst, dass sie mit Richard zusammen war, bevor der zurück nach Greifswald fuhr. So hat er auch gleich noch dem Kaufmannsschnösel eins auswischen können. Zuzutrauen wär’s ihm.« Irma Duve sah Pieplow an, als warte sie auf Bestätigung.
    Pieplow hatte Mühe, sich aus der Erstarrung zu lösen, die ihn bei ihren Schilderungen überkommen hatte.
    »Möglich wär’s«, sagte er und dachte dabei an die Machtgier und die Geltungssucht, die aus allem sprach, was er über Roloff herausfand. Und doch hatte er nicht damit gerechnet, dass sich der Mann, dessen gewaltsamen Tod er aufklären sollte, als ein solch sadistisches Scheusal entpuppen würde. Je näher er diesem Ziel kam, desto weniger wollte er es noch erreichen und wäre jetzt wirklich am liebsten aufgestanden und gegangen. Trotzdem fragte er: »Wann, sagst du, war das?«
    »Der Überfall auf Lissi? Im Herbst 1938.«
    »Und wann ist sie fortgegangen?«
    »Im November. Ende November hat einer der Fischer aus Kloster sie mit nach Stralsund genommen. Sie ging ohne Ankündigung, ohne Abschied. Verschwand, als ihr klar geworden war, dass das Kind sich nicht aus ihrem Leib vertreiben ließ. Mit Stürzen die Stiege hinunter nicht, bei denen sie sich die Wirbelsäule stauchte, auch von den Spülungen mit Sodalauge nicht oder von den Sitzbädern in der Waschbalge, die so heiß waren, dass sie ihr Brandblasen an Bauch und Rücken machten.« Irma Duve strich sich ein paar Mal über die Stirn bis hoch in die dünnen weißen Haare. Sie schwieg und scherte sich nicht um ihren Besucher, der nach ihrer halb erzählten Geschichte ebenso stumm dasaß wie sie.
    Pieplow spürte eine Verlegenheit in sich aufsteigen, die so stark war, dass sie sich wie Scham anfühlte. Er begann in der vollgestellten Stube zu schwitzen und wünschte sich ein dickeres Fell. Am besten eins aus phantasieloser Gleichgültigkeit, unter dem ihn unberührt ließ, was seine Fragen ans Tageslicht brachten.
    Irma Duve war aufgestanden und hatte das Bild von der Kommode geholt. Sie lehnte es so gegen die Teekanne, dass Pieplow gut erkennen konnte, auf wen sie zeigte. »Die hier mit dem Lockenkopf, das ist sie. Hab ich schon gesagt, dass man an einen Kobold denken musste, wenn man sie sah?«
    Pieplow schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Wenigstens nicht mir.«
    »Das war sie aber. Ein Kobold. Immer fröhlich, immer in Bewegung, unbekümmert, übermutig. Trotz der Sorgen zu Hause, trotz der schweren Arbeit. Ich bin mir sicher, es hätte sie nicht angefochten, dass die Leute sich das Maul zerrissen über sie und

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