Totensonntag: Ein Westfalen-Krimi (Westfalen-Krimis) (German Edition)
hatten. Gleich zu Beginn ihres Studiums in Bochum hatte sie sich mit ihrem Vater verkracht und brauchte Geld für ihren Lebensunterhalt. Übers Kellnern war sie an einen Mann geraten, der ihr ein finanziell interessantes Angebot gemacht hatte. Eines Tages fand sie sich in einem der kleinen Häuschen auf dem Bochumer Eierberg wieder und musste ihren Ekel überwinden, um ihren ersten Freier zufriedenzustellen. Zum Glück hatte sie die Kraft aufgebracht, nicht in diesem Milieu zu versacken, sondern ihr Studium der Sozialarbeit abzuschließen. Das erstbeste Stellenangebot hatte sie genutzt, um aus Bochum und damit aus ihrer Vergangenheit zu fliehen. Nun war Paderborn zu ihrer Wahlheimat geworden. Es war nicht ihre Traumstadt, und sie hatte einige Jahre gebraucht, um sich hier heimisch zu fühlen. Aber mittlerweile hatte sie die Stärken dieser kleinen Großstadt erkannt und sich hier eingerichtet.
Es blieb nicht aus, dass sie sich bei ihrer Tätigkeit als Sozialarbeiterin immer wieder mit ihrer eigenen Rotlichtvergangenheit konfrontiert sah. Zuerst hatte sie sich jeder Erinnerung daran verweigert, aber irgendwann erkannte sie, dass sie ihre Erfahrungen sinnvoll nutzen konnte, und stellte sie dem Verein Theodora zu Verfügung.
Um Olga nicht unter Stress zu setzen, zündete sie sich selbst eine Zigarette an, obwohl sie eigentlich beschlossen hatte, das Rauchen aufzugeben. Sei’s drum, dachte sie, ich rauche ja für einen guten Zweck.
Endlich fand Olga wieder in die Gegenwart zurück. Sie starrte weiter an die Decke, während sie berichtete, wie sie und Alicija gleich nach ihrer ersten Nacht in der schönen neuen Wohnung mit dem Auto abgeholt worden seien. Ein breitschultriger Mann Ende dreißig, der sich Mike nannte, mit ihnen aber Russisch sprach, hatte den verblüfften jungen Frauen erklärt, dass er ihr Betreuer während der »Ausbildungszeit« sei und dass sie seinen Anweisungen nachzukommen hätten. Andernfalls würden sie umgehend nach Odessa zurückgeschickt werden. Er hatte ihnen klargemacht, dass sie als noch minderjährige Ausländerinnen in diesem Land keine Arbeitserlaubnis bekommen würden, weshalb es in ihrem eigenen Interesse sei, möglichst nicht unangenehm aufzufallen.
Hier hakte Karen Raabe nach und wollte genauer wissen, was dieser Mike gemeint habe. Olga überlegte kurz. »Er hat gesagt, wir sollen einfach ganz brav alles mitmachen, was man von uns verlangt. Dann würde es uns in Deutschland gut gehen. Ansonsten wären wir schneller wieder in unserer Heimat, als wir es uns vorstellen könnten. Wir haben seine Drohungen aber auch nicht sonderlich ernst genommen.«
Noch immer gingen die Mädchen davon aus, dass sie hier zur Kellnerin ausgebildet werden würden, und machten sich keine Sorgen. Sie waren es beide gewohnt, das zu tun, was Erwachsene von ihnen verlangten. Alles Mögliche hatten sie in ihrem Leben schon gelernt, aber nicht, einen eigenen Willen zu entwickeln. Sie würden einfach ihren Ausbildern gehorchen und ihre Arbeit gut machen. Was sollte da schon schiefgehen?
Die erste große Enttäuschung hatte es gegeben, als Mike sie vor ihrem künftigen Arbeitsplatz absetzte.
»Ich konnte es nicht glauben«, erzählte Olga. »Dieses hässliche Gebäude sollte das gute Restaurant sein, das die Frau in Odessa uns versprochen hatte? Zum ersten Mal kamen mir Zweifel daran, ob das alles so richtig sei. Und ich konnte Alicija ansehen, dass es ihr genauso ging.«
Im Gebäude war es noch schlimmer gekommen. Mike hatte plötzlich einen ganz anderen Tonfall angenommen. War er auch vorher schon nicht gerade einfühlsam mit den beiden Mädchen umgegangen, so war er nun richtig grob geworden. Als dann noch eine Frau dazugekommen war, die höchstens zehn Jahre älter war als Olga und Alicija war, hätte Olga viel darum gegeben, wieder in ihrem ukrainischen Heimatdorf zu sein.
»Diese Frau war widerwärtig zu uns. Sie nannte sich Irina, sprach ebenfalls Russisch und sagte, sie sei unsere Chefin, und wir müssten ihr in allen Punkten gehorchen. Sonst würde sich Mike mit uns auf eine Art und Weise befassen, die wir sicher nicht angenehm fänden. So ähnlich hat sie das ausgedrückt. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, wovon diese Frau sprach. Alicija hat offenbar schneller begriffen, worum es ging. Sie hat sofort protestiert. Aber das hätte sie besser nicht getan.«
Olga musste sich erst eine Zigarette anzünden, bevor sie weitersprechen konnte. Sie war bemüht, sich ihre Erregung nicht anmerken zu lassen,
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