Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
hatte zwar nicht den Eindruck vermittelt, als wäre er dazu bereit, aber nun, nachdem die Entführung gescheitert war, würde er vielleicht zusammenbrechen.
Bei leichtem Schneetreiben fuhr Lukas vom Parkplatz der Polizeistation. Wallner stand am Fenster und sah dem Wagen hinterher. Er dachte wieder und wieder über Claudias Entführung nach, über Kieling und die Morde an Frieda Jonas und Uwe Beck und darüber, wie das alles zusammenhing. Es gab nur ein Szenario, bei dem alles einen Sinn ergab. Doch dieses Szenario hatte einen Schwachpunkt – es gefiel Wallner ganz und gar nicht.
Kurz nach zehn stand Kreuthner neben Wallner und warf ihm einen weißen Briefumschlag auf den Tisch. »Und? Wie geht’s ihr?«, fragte er.
»Gut. Sie wird bald rauskommen. Was hast du da für mich?«
»Fotos.«
»Oh, hatte ich ganz vergessen.« Wallner öffnete den Umschlag und zog die Fotos heraus. Um Zeit zu sparen und weil das Wochenende bevorstand, hatte Kreuthner Becks Negative von einem Spezl mit Fotolabor entwickeln lassen. Die Bilder waren, ihrer Entstehungszeit entsprechend, alle schwarzweiß. Sie zeigten Dürnbach im April und Mai 1945, am Anfang viele deutsche Uniformen, später amerikanische.
Wallner sah die Fotos einzeln durch und wollte das Bild in seiner Hand schon auf den Stapel legen. Es war wie die meisten mit Teleobjektiv aufgenommen und zeigte einen sehr jungen Mann mit Gewehr, der zufällig in die Kamera blickte.
»Schau dir mal genau den Hintergrund an.«
Im Hintergrund war die weiße Wand eines Hauses, den kleinen Fenstern nach ein altes Bauernhaus. Dort saß jemand – halb verdeckt durch den jungen Mann – auf einer Bank. Eine Frau in einem dunkel gemusterten Kleid, mit kurzer Strickjacke und einer Mütze auf dem Kopf.
»Das Gesicht von der Frau – fällt dir da was auf? Und die Beine?« Kreuthner deutete auf die entsprechenden Stellen. Wallner nahm eine Lupe zu Hilfe. Die Beine der Frau, die unter dem Rock hervorragten, waren dünn wie Besenstiele. Die Arme ebenfalls.
»Du meinst, die Frau ist ein KZ-Opfer?«, fragte Wallner.
»Schaut so aus, oder?«
Wallner sah sich das Gesicht der Frau an. Das, was er für eine Haarsträhne gehalten hatte, die unter der Mütze hervorschaute, war bei näherem Hinsehen etwas anderes. Es war Blut, das in einem dünnen Rinnsal die Stirn hinunterfloss. »Das ist Frieda Jonas?«
Kreuthner zeigte auf die nächsten Fotos, die das Geschehen von weitem zeigten. »Denk schon. Und das ist das Sakerer Gütl. Ich kenn das noch. Als Kinder hamma da immer gespielt. Bevor’s abgerissen worden ist.«
Wallner legte das Foto vor sich auf den Tisch und bedeutete Kreuthner mit einer Geste, sich zu setzen. »Ich hab gerade über die Entführung nachgedacht.«
»Was gibt’s da nachzudenken?«
»Jemand entführt die Staatsanwältin und glaubt, er kommt dadurch frei.« Wallner verschränkte seine Arme hinter dem Kopf und lehnte sich zurück. »Macht Kieling den Eindruck, dass er so naiv ist?«
»Ich tät sagen, der ist sogar ziemlich ausgekocht.«
»So! Und trotzdem müssen wir davon ausgehen, dass Kieling dahintersteckt. Was wollte er mit der Entführung? Dass Lukas unter Druck behauptet, er hätte Beweise gefälscht? Das lässt sich doch hinterher wieder rückgängig machen. Es sei denn …« Wallner sah sich das Foto noch einmal an, dann steckte er es in eine Klarsichthülle.
»Es sei denn?«
»Tja, es gibt eigentlich nur eine sinnvolle Erklärung. Und die ist leider ziemlich unangenehm. Ich möchte, dass das erst mal unter uns bleibt, okay?«
»Eh klar. Also? Was für eine Erklärung?«
»Die einzige Erklärung für das Ganze, die irgendwie Sinn ergibt, ist: Lukas hat die Beweise wirklich gefälscht und Kielings Fingerabdrücke und DNA bei Beck plaziert. Deswegen konnte Kieling davon ausgehen, dass Lukas die Fälschung auch beweisen kann. Und wenn er sie beweist, kann er nichts mehr rückgängig machen.«
»Das heißt, Kieling war’s gar nicht?«
Wallner deutete auf das Foto. »Das ist jedenfalls nicht Kieling. Aber vermutlich der Mörder von Frieda Jonas.«
»Schaut so aus.« Kreuthner steckte sich zufrieden eine Zigarette an. »Und? Was machst jetzt damit?«
»Erst mal rauskriegen, wer das auf dem Bild ist.« Wallner steckte das Foto ein und zog seine Daunenjacke an. »Sagst du bitte dem Höhn, dass ich in München bin, wenn er kommt?«
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D ie zuständigen Beamten in Stadelheim wunderten sich ein wenig, dass der junge Kommissar den Untersuchungshäftling
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