Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
Außenlagern gab es Frauen. Soweit wir das nachvollziehen konnten, ist sie erst im März fünfundvierzig von Ravensbrück über mehrere Stationen nach Allach gekommen.«
Eine Krankenschwester ging vorbei und lächelte die beiden Männer an. »Es dauert noch ein bisschen. Läuft aber alles gut.«
Wallner und Lukas bedankten sich für die Auskunft und widmeten sich wieder ihrem Gespräch.
»Wie war das für Sie als Kind? Ich meine, diese Situation ohne Vater.«
»Ich kannte meinen Vater ja kaum. Er ist vierunddreißig verhaftet worden. Da war ich gerade mal vier Jahre alt. Er hat mir eigentlich nicht gefehlt. Zumal er ein nicht so umgänglicher Charakter war. Das Schlimme war: Mein Vater war ein Volksverräter und deswegen eingesperrt. Und das bekam ich immer wieder zu spüren.«
»Was waren das für Repressalien?«
»Mir wurde immer wieder gezeigt, dass ich nicht dazugehörte. Als ich zehn war, durfte ich zum Beispiel nicht ins Jungvolk. Das war hart für mich.«
»Wollten Sie da hin? Ich meine, dieser Staat hatte Ihnen den Vater genommen.«
»So denkt man nicht als Kind. Als Kind will man sein wie alle. Und es waren nun mal alle im Jungvolk. Und die haben die Fahrten mitgemacht und Lagerfeuer und Schießübungen und Kameradschaft und all das, worüber wir heute die Nase rümpfen. Ich habe mich danach gesehnt, weil es unerreichbar war.«
Wallner sah zum Fenster am Ende des Ganges. Dort stoben noch immer die Schneeflocken vorbei. »Dann wurde also Ihre ganze Familie in Sippenhaft genommen?«
»Nein, nicht die ganze Familie. Der Bruder meiner Mutter war in der SS und hat sich manchmal für uns eingesetzt. Dreiundvierzig durfte ich auf sein Betreiben hin dann doch zu den Pimpfen.«
»Das Verhältnis Ihres Vaters zu seinem Schwager wird nicht ganz einfach gewesen sein.«
»Der Onkel Kurti, so haben ihn alle genannt, das war das schwarze Schaf der Familie. Bevor die Nazis an die Macht kamen, hat er nur Mist gebaut. Er war so dieser Typ charmanter Taugenichts. Mein Vater musste ihn als Jugendlichen mehrfach vor Gericht raushauen für irgendeinen Blödsinn. Schmuggel, Schlägereien, Diebstähle – Kurti hat alles gemacht. Bei der SS hat er dann den richtigen Rahmen gefunden, um seine kriminelle Energie auszuleben.« Lukas fuhr sich mit den Händen über das müde Gesicht. »Mein Vater ist übrigens der einzige Mensch mit wechselndem Geburtstag.«
»Wie kommt das?«
»Er ist an einem Totensonntag gestorben. Ich habe daraufhin nachgesehen und festgestellt, dass er auch an einem Totensonntag geboren wurde. Seitdem feiere ich seinen Geburtstag jedes Jahr am Totensonntag.« Der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf Lukas’ Gesicht. »Er war ein so außergewöhnlicher Mensch. So jemand sollte keinen gewöhnlichen Geburtstag haben.«
Wallner nickte. »Verstehe.«
Ein Arzt kam schnellen Schrittes vorbei. Sie sahen ihn an. Aber er suchte keinen Blickkontakt. Er war offenbar nicht mit Claudias Operation befasst. Als der Arzt weg war, stellte Lukas seinen Kaffeebecher zur Seite und sah Wallner etwas beklommen an. »Was ist da zwischen Ihnen und Claudia?«
Wallner lächelte. »Das kann ich Ihnen noch nicht so genau sagen. Ich mag Ihre Tochter sehr. Aber – na ja, noch ist sie verheiratet. Und … ich weiß nicht, wie sie es sieht. Ich meine, wie ernst. Sie ist zehn Jahre älter als ich. Also …«
»Wie ernst sehen Sie es denn?«
»Ich sehe solche Dinge immer sehr ernst. Ich kann nicht anders.«
»Das denke ich mir.« Lukas nahm seinen Becher wieder und trank einen Schluck Kaffee. »Wissen Sie – die zehn Jahre sind doch völlig egal. Wenn beide glücklich damit sind. Ich weiß natürlich auch nicht, ob Sie Claudia glücklich machen würden. Aber ich glaube, Sie würden ihr guttun. Sie sind definitiv der Erwachsenere von Ihnen beiden.«
»Ich weiß, ich bin ein bisschen reif für mein Alter.«
»Das ist kein Fehler. Sie sind nicht verpflichtet, Mist zu bauen, nur weil Sie dreiundzwanzig sind.« Lukas sah nachdenklich zur Decke. »Mein Onkel muss damals so in dem Alter gewesen sein, als er in die SS ging. Ein toller Draufgänger, der wahrscheinlich Frauen und Kinder umgebracht hat. Nein. Ungestüm sein ist kein Wert an sich.«
Wallner nickte und warf seinen leeren Kaffeebecher in einen Papierkorb. In dem Moment kam ein Arzt aus einer Tür und ging zu den beiden. »Sie können jetzt zu ihr.«
Claudia hatte den ganzen linken Arm in Gips, hing aber nicht an Schläuchen oder elektrischen Apparaten. Sie
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