Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
ich sage, es war jemand, dessen Namen ich nicht weiß, an dessen Gesicht ich mich nicht erinnere, den ich nur ein paar Minuten gesehen habe und dann nie wieder in meinem Leben. Was würde Ihr Chef von so einer Geschichte halten?«
»Man könnte vermuten, Sie wollten die Tat auf den großen Unbekannten abwälzen.«
»Richtig. Also bringt es auch nichts. Und so habe ich immer noch die Option Sebastian Haltmayer.«
»Was ist eigentlich mit Sebastian Haltmayer? Der war doch dabei. Der könnte es doch bezeugen.«
»Erstens hat er sich ja auf mich als Täter festgelegt. Das hat Ihr Chef nicht schlecht hingekriegt. Der hat Ahnung von Verhörmethoden, das muss man ihm lassen. Und zweitens war der Haltmayer längst weg, als es passiert ist.«
»Erzählen Sie mir einfach, was passiert ist.«
Kieling zerbröselte einen Zuckerwürfel und dachte nach. »Ein junger Bursche vom Volkssturm hatte uns verständigt. Haltmayer hatte ihn geschickt. Als wir ankamen, saß Frieda Jonas auf einer Bank vor dem Haus und wurde von Sebastian Haltmayer und einem anderen Burschen bewacht.«
»Sie kannten die beiden jungen Männer nicht?«
»Nein. Aber Kurt Lohmeier, der Oberscharführer, der mit mir gekommen war, der kannte einen von ihnen.«
Wallner wurde für einen Moment nachdenklich, dann legte er das Foto, das der alte Beck gemacht hatte, vor Kieling auf den Tisch. »Ist das einer von den Burschen?«
Kieling betrachtete das Foto und versuchte, sich zu erinnern. »Ich glaube, ja. Aber das ist natürlich Jahrzehnte her.« Kieling nahm das Foto in die Hand. »Der Mund kommt mir irgendwie bekannt vor. Wer ist das?«
»Wissen wir noch nicht. Was passierte, nachdem Sie am Sakerer Gütl angekommen waren?«
65
E rich Lukas war nach seinem Termin mit den Zielfahndern des LKA in die JVA München Stadelheim gefahren, um mit Kieling zu sprechen und ihm mitzuteilen, dass Claudias Entführung beendet wurde und man die Entführer gefasst hatte.
Zu seinem Erstaunen schien Kieling bereits davon zu wissen, gab sich aber wortkarg und war nicht bereit, mit Lukas zu reden. Auf seinem Weg nach draußen erfuhr Lukas, dass Kieling heute Besuch von Wallner bekommen hatte.
Am Nachmittag kehrte Lukas nach Miesbach zurück und fragte nach Wallner. Der sei schon gegangen, wurde ihm gesagt. Schließlich sei Samstag.
Als Lukas gegen neunzehn Uhr nach Hause kam, brannte Licht, und er fand seine Wohnungstür unverschlossen vor. Im Wohnzimmer saß Wallner – mit einem Aktenordner auf den Knien.
»Guten Abend, Herr Lukas«, sagte er. »Entschuldigen Sie, dass ich hier eingedrungen bin. Ist sonst nicht meine Art. Unser Freund Kreuthner hat mir die Tür aufgemacht.«
»Ich nehme an, Sie hatten Gründe«, sagte Lukas und starrte auf den Aktenordner.
»Ja. Es gibt Erkenntnisse in den beiden Mordfällen, die ich zuerst mit Ihnen alleine besprechen wollte.«
Lukas setzte sich auf das Sofa, lehnte sich zurück und gab Wallner mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er reden solle. Wallner hob den Aktenordner hoch, so dass man den Rücken erkennen konnte. Er trug die Beschriftung 1945 .
»Wie kommt dieser Ordner in Ihren Besitz?«, fragte Wallner.
»So, wie Sie vermuten. Ich habe ihn bei Beck mitgenommen.«
»Nachdem Sie ihn in die Kühltruhe gelegt hatten.«
»Ja.« Lukas stand auf und ging in die Küche. »Auch ein Bier?«
»Ist ja Samstagabend. Okay.« Wallner folgte Lukas in die Küche. »Warum haben Sie ihn getötet?«
Lukas öffnete den Kühlschrank und nahm zwei Bierflaschen heraus. »Sie kennen den Obduktionsbericht. Ich hab’s nicht mit Absicht getan. Ich hab ihn, glaub ich, nicht mal berührt. Ich … ja, okay, ich bin auf ihn zugegangen und war wütend. Er hatte Angst und ist zurückgewichen und beim Rückwärtsgehen über irgendwas gestolpert, das da rumlag. Ein Drucker oder was weiß ich. Und dabei ist er mit dem Hinterkopf auf dem Wohnzimmertisch aufgeschlagen.«
»Die Geschichte kann Ihnen keiner widerlegen. Ich meine – die Fakten sprechen dafür.«
»Sie glauben mir nicht?« Lukas öffnete die Bierflaschen und reichte eine davon Wallner. »Brauchen Sie ein Glas?«
»Flasche ist in Ordnung.« Sie stießen an und tranken ein paar Schlucke. Wallner wischte sich das Bier vom Mund.
»Wissen Sie was – ich glaube Ihnen die Geschichte. Was ich mich frage, ist, warum Sie nicht die Polizei gerufen haben. Sie waren dabei, als Uwe Beck unglücklich gestolpert ist. Na und? Kann passieren. Sie sind zu ihm gefahren, weil er bei Ihnen im Büro
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