Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
Dr. Kulka. Ich würde mich jetzt gern mit Herrn Lukas unter vier Augen unterhalten.«
»Sind Sie sicher, dass Sie das möchten?«
»Ja.«
Kulka nahm mit zweifelndem Gesichtsausdruck Abschied. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, herrschte eine Weile Stille im Raum. Lukas zündete sich eine Zigarette an.
»Geben Sie mir auch eine?«, sagte Kieling.
Lukas schob ihm die Packung samt Feuerzeug über den Tisch. »Ich dachte, Sie rauchen nicht.«
»Seit dreizehn Jahren nicht mehr. Aber heute hab ich mal Lust auf eine.« Kieling zündete sich die Zigarette an, sog den Rauch tief und bewusst ein und blies ihn zur Neonlampe an der Decke. »Wie geht es Ihrer Tochter? Der Staatsanwältin?«, fragte er schließlich.
»Sie wurde entführt.«
»Das tut mir leid. Weiß man, wer es war?«
»Nein.«
»Es muss einem das Herz herausreißen, wenn das eigene Kind …«
Lukas sah seinem Gegenüber in die Augen. Sie waren undurchsichtig, das Gesicht verriet keine Emotion. Lukas versuchte, mit ähnlichem Gleichmut aufzutreten. Aber es wollte nicht gelingen. Die Wut kochte in ihm, der Magen krampfte, und sein Mund war trocken.
»Was genau soll ich tun?«, fragte er nach einer Weile.
»Das, was Sie als gewissenhafter Polizist tun müssen.« Kieling drückte seine halbgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. »Schmeckt doch nicht so gut. Sie werden alle gefälschten Beweise gegen mich – wie sagt man – entwerten? Jedenfalls an höherer Stelle klarstellen, dass Sie sie manipuliert haben, und das glaubhaft belegen. Mein Anwalt wird sich ansehen, wie Sie das gemacht haben, und mir berichten.«
»Dann kommt meine Tochter frei?«
Kieling zuckte erstaunt mit dem Kopf. »Was für ein merkwürdiger Gedanke, Herr Lukas. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer Ihre Tochter entführt hat. Allerdings wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie Ihren Job möglichst schnell erledigen würden. Ich finde acht Quadratmeter auf Dauer sehr einengend. Es wäre schön, wenn ich bis morgen um, sagen wir, achtzehn Uhr dieses Gebäude verlassen könnte.«
Lukas stand auf und ging zur Tür. Dann drehte er sich noch einmal um. »Ich denk drüber nach. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen. Und viel Glück bei der Geschichte mit Ihrer Tochter. Ich hoffe, es ist nicht die Art von Entführern, die ihren Opfern Finger abschneiden oder so was.«
Lukas atmete tief durch, presste die Kiefer aufeinander und kämpfte gegen das Verlangen an, Kieling die Zähne einzuschlagen.
»Also – morgen, achtzehn Uhr.« Kieling lächelte zum ersten Mal in diesem Gespräch.
55
Z wei Minuten nachdem sie losgefahren waren, hatten die beiden Herren im Anzug den metallicgrünen Mercedes angehalten, Claudia aus dem Wagen gezerrt und in den Kofferraum gesteckt. Anschließend hatten sie ihr ein Tape über den Mund geklebt, einen schwarzen Stoffsack über den Kopf gestülpt und sie aufgefordert, sich ruhig zu verhalten.
Die Fahrt hatte eine halbe Stunde gedauert. Claudia lag in der Dunkelheit und versuchte, in den Kurven nicht allzu sehr im Kofferraum herumzurutschen und sich nicht den Kopf anzuschlagen.
In dem Augenblick, als die Männer den Wagen angelassen hatten, hatte Claudia gewusst, dass sie das Opfer einer Entführung geworden war. Ihr Herz hatte angefangen zu rasen. Wie viele Entführungsopfer kamen mit dem Leben davon? Erschreckend wenige. Tausend Überlegungen schossen gleichzeitig in Claudias Kopf umher. Wollte jemand Lösegeld von ihrem Mann? Oder wollte jemand ihren Vater erpressen? Wegen der Mordermittlungen, die sie gemeinsam führten? Kieling? Wer immer es war, er würde sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit umbringen lassen. Claudia brach der Schweiß aus, und ihr wurde schlecht.
Der letzte Teil der Strecke war kurvenreich und führte bergauf.
Claudia schlug mehrfach mit dem Kopf gegen ein Metallteil und musste sich beinahe übergeben. Schließlich hielt der Wagen, sie hörte Türenschlagen, Schritte, dann spürte sie einen kalten Hauch. Sie hatten den Kofferraum geöffnet.
Einer der Männer zog sie an den Füßen zur Ladekante. Dann hoben sie Claudia aus dem Kofferraum, führten sie einen unebenen Weg entlang und sagten »Vorsicht Stufen«. Sie tastete sich in ihren Pumps eine verschneite Treppe hinab. Der Föhn war mittlerweile zusammengebrochen, es war kälter geworden und hatte angefangen zu schneien. Der Schnee auf den Stufen war schwer und nass. Ein eisiger Wind blies Claudia in ihre Bluse und unter den Rock. Sie hatte den
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