Totenstadt
wandelte und sie die alte Pracht vor sich hatte … den Garden District. Was für einen Unterschied einige Blocks doch machen konnten. Sie musste nur zweimal einen Blick auf ihre kleine Touristenkarte werfen, und drei weitere Blocks später parkte sie auf dem Parkplatz an der Washington Street und ging den restlichen Weg zum Lafayette-Friedhof zu Fuß. Sie wollte diese Zeit allein verbringen und diese Stadt unter den Füßen anstatt unter den Reifen spüren, damit sie ihr von ihren Geheimnissen und den vergangenen Jahrhunderten berichten und sie davon abbringen konnte, mit einem Hass auf sie nach Hause zu fahren, der allein auf dem, was einige ihrer schändlichen Söhne ihr, ihrem Ehemann und Fremden angetan hatten, begründet war.
Es war kühl, und es nieselte leicht aus einem Himmel, der zu Tagesbeginn farblos gewesen war und jetzt immer dunkler wurde. Als sie das Friedhofstor an der Coliseum Street erreicht hatte, schien sie eine widerhallende Saite seiner Bewohner an einer Stelle zu berühren, die bloßer Pragmatismus niemals erreichen konnte; es war fast so, als würden sie sich entschuldigen. Diese Nekropolis, umgeben von reinweißen Mauern, in der die Knochen all der Menschen lagen, die sie niemals kennenlernen würde, in Kammern aus verwittertem Stein und Ziegeln, deren Kanten nun so rund und porös wie Brotscheiben waren. Hier begruben sie ihre Toten über der Erde, damit sie das Grundwasser nicht verschmutzten – mehr aus Gewohnheit denn aus Notwendigkeit –, und etwas daran kam ihr vollkommen angemessen vor. Ein Besuch am Grab eines geliebten Menschen konnte einen größeren Trost verschaffen, wenn man nicht über einem früheren Loch im Boden stehen musste … man hätte die Gewissheit, dass der Staub ihrer Essenz gleich hinter dieser Steinmauer lag, als stünde diese Person im Nachbarzimmer.
Wenn der Tag kam, an dem sie in diesen zeitlosen Schlummer fiel, dann sollte ihre Ruhestätte genauso aussehen.
Unter dem regnerischen, bedrohlichen Himmel ging sie zwischen den wenigen Besuchern in dieser Stadt der Knochen umher und dachte an Moreno. Er war auf seine kurz angebundene Art faszinierend, ebenso wie die Mauern, die er um sich herum errichtet hatte. Die wenigen Einblicke in seine Vergangenheit, die ihnen gewährt wurden, waren wie Stiche durch die Glieder einer Rüstung; er schien der Typ Mann zu sein, der seine Vergangenheit wie eine Kevlarweste mit sich herumtrug – unsichtbar und dennoch der perfekte Schutz.
Wartete zu Hause jemand auf ihn? Er schien durchaus Fürsorge und Loyalität zu empfinden. Wie schwer war es wohl, mit einem Mann zu leben, der seine Sachen packen und fortfliegen würde, um Fremden zu helfen, die ihn telefonisch darum baten. Aber es war gewiss auch ziemlich aufregend.
Hinter ihr erklangen Schritte, und sie drehte sich um; einen seltsamen Augenblick lang standen sich zwei Fremde gegenüber und musterten einander, ob sie den kurzen mündlich abgegebenen Beschreibungen entsprachen.
»April?«, fragte er.
»Die bin ich, wenn Sie Ron sind.«
Er lächelte, und sie gaben sich kurz die Hand. Einen Moment lang standen sie unbeholfen im stärker werdenden Nieselregen, den keiner von ihnen so recht bemerken wollte.
»Haben Sie schon mit Elaine gesprochen?« Sie verspürte die seltsame Verpflichtung, die in der letzten Woche am Telefon erzeugte Illusion aufrechtzuerhalten.
»Nein«, erwiderte er amüsiert und starrte stoisch hinter seinen mit Regentropfen gesprenkelten Brillengläsern hervor. Er war einige Jahre älter als sie, wahrscheinlich Mitte dreißig, und ihr war der Fleck an seinem Ringfinger aufgefallen, als sie sich die Hand geschüttelt hatten, der wie eine alte Wunde wirkte.
»Gehen wir ein Stück.« Sie begann, an einer Reihe von Mausoleen entlangzugehen, von denen viele von Kreuzen oder Urnen gekrönt waren und sich durch den Regen langsam dunkler färbten. »Ich habe in den letzten Tagen genug herumgesessen.«
Ron Babbet schloss zu ihr auf; er hatte die Hände tief in den Taschen seines langen dunkelgrauen Mantels vergraben, der ihm um die Knie flatterte. Das Wasser tropfte aus seinen zerzausten schwarzen Haaren. Er schwieg und wartete, dass sie die Stille brach.
»Sie kennen doch diese Witze«, begann sie, »die damit beginnen, dass einer sagt: ›Ich habe gute und schlechte Neuigkeiten‹?«
Er bestätigte, dass er sie kannte.
»Nun … so geht es mir jetzt auch. Ich habe vor, Ihnen die wahrscheinlich größte Story zu liefern, die ihnen je in den Schoß
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