Totenstadt
wenig eine Ahnung hatte, was der morgige Tag oder die nächsten zehn Jahre bringen würden. Er saß an den Stränden, lehnte sich gegen Palmen, deren Blätter über ihm rauschten. Er schnitt sich beim Wandern über Korallenriffe die Füße auf. Sein Bart wuchs, seine Haut wurde dunkler, sein Körper verlor die letzten Spuren der Weichheit, die das Yuppieleben mit sich gebracht hatte.
Er nahm einen Job in Vaca Key in einem Loch in der Wand an, das sich als Bar bezeichnete und Hemingway bestimmt gut gefallen hätte, wo er langhalsige Bierflaschen und auszuschlürfende Austern servierte, und er mietete einen halben Doppeltrailer, in dem er hauste. Es hatte auch Romanzen gegeben, allerdings nur auf begrenzter Basis. Beides waren Frauen aus Miami, die eine Aktienmaklerin, die andere eine Sozialkundelehrerin, die vom Mythos des Strandgammlers an der östlichsten Grenze Amerikas fasziniert waren. Aber selbst die Keys wurden irgendwann langweilig, und er hatte keinen Nerv mehr für diese Spielchen. One-Night-Stands und wochenlange ausweglose Situationen; libidinös bestimmte Unfälle, deren Leidenschaft an die eines Vulkans grenzte und die er in fast krimineller Geschwindigkeit beendet hatte, sobald die Lava erloschen war.
Sechs Wochen hatten ausgereicht. Hätten Mendoza und die Droge, die man Schädelspülung nannte, seine Seele noch länger vergiftet, dann hätten sie auf gewisse Weise in absentia gewonnen.
Er rief April an. Er sagte ihr, wo sie ihn finden könne, wenn sie Interesse hätte. Auf neutralem Boden, ohne Fragen und neugierige Blicke von Außenstehenden. Sie kam. Vaca Key wurde zum Niemandsland, in dem sie einander unbehelligt von Prüfungen und morbider Faszination neu abschätzen konnten, wo man sie in Ruhe ließ.
Hier stellten sie zu guter Letzt fest, dass sie noch vieles verband. Frieden. Entschlossenheit. Und das Wichtigste: Vergebung.
Und als er knapp zwei Monate nach seinem Aufbruch seinen Bart abrasiert hatte und nach Tampa zurückkehrte, fand er eine Wahrheit, deren Existenz er lange vermutet hatte. Die Zeit heilt alle Wunden … und die Medien haben nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne. In der Zwischenzeit hatten sie neue Opfer gefunden, frischeres Blut geleckt.
Er hatte sich den Luxus der Einsamkeit verdient. Sie beide hatten es.
Er liebte sein Leben, er liebte seine Frau, und er wollte sie gegen nichts in der Welt eintauschen. Aber da waren stets die Erinnerungen … an das Adrenalin und den Sturz kopfüber in die furchtbare Katastrophe und an den schwer erkämpften Triumph. Warum sollte er also an diese schlimme Zeit zurückdenken … und sich darüber klar werden, dass er sich nie lebendiger gefühlt hatte?
4
S ANKTION
Aal und sein Fahrer gabelten den Kerl in der Decatur auf, direkt vor dem zentralen Lebensmittelgeschäft. In dieser Beziehung zumindest lebte Evan Erskine sein Leben mit vorhersehbarer Routine. Hier war er fast jeden Nachmittag, um sich ein Muffuletta fürs Abendessen zu holen, und zwar genau zur selben Zeit, zu der die Engländer ihren Tee tranken. Sollte es je erforderlich sein, gesetzlich gegen diesen Mann vorzugehen, und kannte man seine Gewohnheiten, so wäre man hier am richtigen Ort, und Evan Erskine würde aufgrund seiner Sucht nach dem offiziellen Sandwich von New Orleans dran glauben müssen.
Als Evan die Tür öffnete und auf den Rücksitz des Cadillacs glitt, drang ein Schwall der für New Orleans typischen abgestandenen Augustluft wie eine heiße Faust mit in den Wagen. Stickig und feucht. Die Art Luft, die Städte in der Mittagszeit zum Erliegen bringen konnte, da die Menschen zu schwach und leer waren, um etwas anderes zu tun, als zu trinken, herumzuhuren oder einen impulsiven Mord zu begehen. Das Unbehagen der Südstaaten.
»Mr Fletcher«, sagte Evan und nickte Aal freundschaftlich zu.
»Fahren Sie«, befahl Aal seinem Fahrer. »Royal Street. Sie wissen schon, wo.«
Der Wagen rollte los und blockierte nicht länger die einzige Fahrspur. Sie bogen an der nächsten Ecke ab, fuhren die Dumaine hoch und an Straßen entlang, die für eine andere Ära gebaut zu sein schienen, die schon lange Vergangenheit war. Schmale Straßen, die einst vom Klappern der mit Hufeisen beschlagenen Pferdehufe und dem Rollen der Kutschen widerhallten. Zu dieser Tageszeit waren weder viele Fußgänger noch viele Fahrzeuge unterwegs, und diejenigen, die man sehen konnte, waren größtenteils Touristen, die es nicht besser wussten und versuchten, im French Quarter ihren Urlaub so
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