Totenstadt
keuchte.
»Er?«, murmelte er und reckte bestürzt die Hände. »Der Kerl sieht so aus, als hätte er nicht mal so viel Grips wie ein Toastbrot!«
Eine genaue Beobachtung, vielleicht sogar ein wenig zu vorteilhaft. Der Sündenbock war ein Schwarzer, vielleicht noch recht jung, aber er wirkte durch seine Wildheit nicht mehr taufrisch. Er ging mit dem leichten Taumeln eines chronischen Alkoholikers, und er sah aus, als hätte er sich im Dunkeln angezogen. Sein Mund stand halb offen, seine Augen sahen so stumpfsinnig drein, als würden sie in ein Reich blicken, das nur er erkennen konnte. Ein einzelnes abgefallenes Blatt hing hartnäckig in seinen Haaren fest. Er war das traurigste Individuum, das Evan seit langer Zeit gesehen hatte.
Dorcilus Fonterelle hatte definitiv schon bessere Zeiten erlebt.
»Bin ich froh, dass ich dieses arme Schwein nicht riechen kann«, murmelte Evan.
Auf der Royal sah es so aus, als ob andere nicht so viel Glück hatten. Einheimische und Touristen versuchten gleichermaßen, einen weiten Bogen um dieses schlurfende Wrack zu machen.
Aal und Evan sahen, wie er vor LJ Jewelers anhielt und die Tür offenbar ausgesprochen konzentriert anstarrte.
Aal schloss die Augen: Genau … dort drin. Ein wenig mehr als eine mentale Willensbeugung. Das Anstoßen eines Geistes, dessen Gedankenmuster bereits zu schwachen Abbildern geworden waren. Und die dann durch die simplen täglichen Wiederholungen ersetzt wurden.
Fonterelle schlurfte durch die Tür und verschwand im Juweliergeschäft. Zwanzig Sekunden später wurde er von einem uniformierten Wachmann wieder auf die Straße gesetzt, der diese Routine schon so oft mitgemacht hatte, dass er dabei völlig gelassen blieb.
Fonterelle taumelte langsam auf dem Bürgersteig herum und blinzelte in die Nachmittagssonne. Er glich einem Welpen, den man so weit weg von zu Hause ausgesetzt hatte, dass ihn selbst sein Instinkt nicht mehr heimführen konnte. Sein Kiefer bewegte sich ununterbrochen, als würde er immer dieselben Worte murmeln.
Und Aal bestaunte diese Kreatur, die er erschaffen hatte, wie er es stets tat, wenn er Dorcilus Fonterelle beobachtete. Der Anblick überraschte ihn immer wieder aufs Neue. Wie fühlte sich Dorcilus? Konnte er noch wie zuvor Schmerz empfinden? Hörte er Aal in seinem Kopf, wie er ihn in seinen Ohren hören würde?
Das waren rein wissenschaftliche und hypothetische Überlegungen, was ihnen jedoch nichts von ihrer Faszination nahm. Man konnte nicht tiefer in Fonterelles Kopf eindringen, als nötig war, um alles durcheinanderzubringen; der Austausch war eine Sackgasse. Aber Aal hatte sich solche Dinge schon seit fast einem Jahrzehnt gefragt, und die Antworten wollten heute genauso wenig wie damals kommen. Damals, als er ein Hunsi war, ein niederer Initiant, Lehm in den Händen der launenhaften Götter.
Aber dass er es nie erfahren, nie ein größeres Verständnis besitzen würde, als es jetzt der Fall war … das wäre ein höchst abscheuliches Versagen.
»Und wann soll ich es tun?«, wollte Evan wissen, und Aal bat ihn, die Frage zu wiederholen. Tagträume. Das war nicht gut, nicht jetzt.
»Irgendwann nächste Woche. Ich überlasse es Ihnen, den besten Zeitpunkt auszuwählen. Das fällt eher in Ihren Bereich als in meinen.«
»In Ordnung.« Einige weitere Sekunden lang sah Erskine zu, wie sich Fonterelle umdrehte und den Bürgersteig entlangschlurfte, zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Ein weiterer hoffnungsloser Fall von Straßenabschaum, der nicht einfach so beseitigt werden konnte.
»Wahrscheinlich muss ich das auch nicht wissen«, sagte Erskine. »Aber was zum Teufel ist dem denn zugestoßen?«
Aal schürzte die Lippen, während er in seinen Schoß starrte. Er wedelte sich noch ein wenig Luft mit dem Panamahut zu, dann sah er mit einem ausgesprochen sanften Lächeln auf. Seine Augen waren fröhlich und dabei gleichzeitig hart wie Diamanten.
»Sie würden es mir ja doch nicht glauben.«
5
D EN W IND ERNTEN
Der Magnolienblüten-Auftrag war der größte Brocken, der Justin seit seinem Eintritt bei Segal/Goldberg vor etwas mehr als zehn Monaten in den Schoß gefallen war. Er hatte einen Job gesucht und kannte sich auf dem hiesigen Markt so gut wie gar nicht aus. April ließ ein paar Kontakte spielen und besorgte ihm Vorstellungsgespräche bei verschiedenen Kreativdirektoren, mit denen sie schon auf freiberuflicher Basis zusammengearbeitet hatte. Schön. Er war nicht stolz, nur pleite und arbeitslos.
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