Totenstadt
warmes Leder. »Der Rest von uns, wir brauchen dich. Jetzt.«
»Wie kannst du sie hierlassen?«, wollte er wissen. »Sie ist deine einzige Tochter, und du siehst sie vielleicht nie wieder.«
»Und eines Tages wacht sie vielleicht auf und ist wieder bei Verstand, dann will sie wohlmöglich nicht mehr dableiben, wo sie jetzt ist. In diesem Fall hat sie ein neues Zuhause, in das sie gehen kann, wenn ich vor ihr aufbreche.« Orvela ließ ihn los, nahm eine seiner Hände zwischen ihre Handflächen und drückte sie. »Also bring mich dorthin, Napolean. Es ist zu weit weg, als dass wir hingehen könnten, so viel ist mir klar.«
Er nickte. Der Ahnenmond hatte schon größeres Leid gesehen als das seine. Dann wurde ihm noch etwas klar.
»Was ist mit den anderen?« Er zeigte in Richtung Fluss, zu den Zuckerrohrfeldern. »Wollen sie nicht mit uns kommen?«
»Nein.« Orvela drückte seine Hand ein letztes Mal. »Wir kamen aus demselben Land … und sie haben uns an denselben Ort gebracht … aber diese Leute auf den Feldern, wir waren einmal wie sie, Napolean, aber wir sind es nicht mehr. Wir leben schon so lange unter einem besseren Dach als sie, dass sie uns jetzt ansehen, als hätten wir etwas Böses getan, um es zu ermöglichen.«
Wenn er seine Augen schloss, konnte er nichts weiter sehen als zu viele leere Plätze in einem Bus, der Richtung Süden fuhr. »Hast du sie überhaupt gefragt?«
»Ich? Nein. Ich habe Tulia und Phillipe geschickt.« Sie schüttelte den Kopf. »Diese Leute, sie wollten sich nicht einmal alles anhören, was sie zu sagen hatten, so sehr misstrauten sie ihnen. Sie sagten, sie würden versuchen, sie reinzulegen …« Sie seufzte, ihre mageren Schultern sackten zusammen, und sie streichelte ihm mit einer ledrigen Hand über die Wange. »Ich weiß, du möchtest, dass wir alle gehen, aber diese Menschen wissen es nicht besser, sie denken, wir wären immer noch in Haiti … und wir seien jetzt die Reichen.«
»Vielleicht sind wir das.« Er erinnerte sich an den Komfort, den er bei seinem Aufwachsen hier genossen hatte. Wie einfach es war, sich überlegen zu fühlen, bevor es einem überhaupt klar wurde, nur weil man sich den ganzen Tag nicht schmutzig machen musste. Aber Tränen und Staub waren ebenfalls Schmutz.
Sie durften nicht noch mehr Zeit verschwenden. Also ging Napolean los und führte sie zum Tor. Orvela hatte einen Schlüssel mitgenommen und schloss es auf, dann warf sie den Schlüssel in die Bäume.
Sie benötigten beinahe fünfundzwanzig Minuten für den Weg, der in Schlangenlinien zwischen Bäumen hindurch, über Lichtungen und durch Senken führte, in denen bei Tag die Sonne schien und die des nachts schwarzen Löchern glichen. Der Boden war manchmal fest, meist aber eher modrig. Als sie das letzte Tal erreicht hatten, beschleunigten sich ihre Schritte, denn der Bus stand an der Seite einer Schotterstraße.
Christophe saß breit grinsend hinter dem Lenkrad und öffnete die Tür. Es war vielleicht nicht die Last, auf die er gehofft hatte, aber es reichte. Es war eine Familie, und darin lag keine Schande, kein Versagen.
Napolean tippte einem der Männer auf die Schulter. Bertin Bayume war einige Jahre älter als er, einige Zentimeter kleiner, aber er hatte kräftigere Arme und Schultern. Er besaß die Gabe, in Twin Oaks einige der schönsten Pflanzen wachsen zu lassen, die man je gesehen hatte, was sogar Mr Andrew zugegeben hatte.
»Bertin«, sagte er. »Ich habe dort noch etwas zu erledigen. Es wäre einfacher, wenn du mich begleiten könntest.«
Bertin nickte. »Ich gehe mit dir.«
Orvela packte ihn am Handgelenk. »Was willst du da noch tun? Ich habe dir doch gesagt, du sollst meine Tochter in Ruhe lassen, sie hat ihren eigenen Willen.«
Napolean schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht, denk doch mal nach. Wir können den ganzen Weg durch das Land fahren und es würde uns ohne die Greencards dennoch nicht viel nützen. Wir müssen sie haben, und ich werde sie holen.«
»Warum konntest du ihn nicht wecken und sie dir nehmen, als wir noch dort waren?«
Napolean beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn. »Das sage ich dir später«, dann gab er Bertin einen Klaps auf die Schulter. Während der Rest in den Bus stieg, drehten sie um und rannten über die Lichtung.
»Das war eine gute Frage, die Orvela da gestellt hat, weißt du«, sagte Bertin. »Warum müssen wir deswegen zurückgehen?«
»Du weißt doch, was Mr Andrew ist. Und er weiß es auch«, erwiderte Napolean.
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