Totenstadt
den Himmel auf schaurige Weise schwarz und massiv wirken. Er ging in gebückter Haltung und hielt immer mal wieder an, bis er Twin Oaks umrundet und den Flügel erreicht hatte, in dem sich die Quartiere der Dienstboten und die Gästezimmer befanden.
Noch fünfundfünfzig Meter, und er wartete; da war das Signal, das er zu sehen gehofft hatte: Eine einzelne Kerze brannte in dem sonst dunklen Fenster von Orvela LaBonté. Weiter.
Es ging eigentlich fast zu einfach. Er war kühn genug gewesen, seinen letzten Besuch in Twin Oaks an diesem Morgen per Telefon von Mama Charitys Laden aus anzukündigen. Das hatte Christophe vorgeschlagen; wer sollte schon ans Telefon gehen außer einem dieser Menschen, denen sie helfen wollten? Das Hausmädchen, das den Hörer abnahm, grüßte ihn, wie man einen Verwandten begrüßt, den man für tot gehalten hatte. Auf seine Bitte hin holte sie Orvela an den Apparat, deren Stimme er so freudig hörte wie die einer Lieblingstante.
Er erklärte ihr die Möglichkeit, die er ergreifen wollte und die ihnen allen offenstand. Und dann hörte er zu, ließ sich alles erzählen, was seit Mittwochnacht in Twin Oaks geschehen war. Wenn es je einen Anreiz gegeben hatte, Twin Oaks zu verlassen, dann diesen.
Orvela würde den Rest erledigen; er musste nichts weiter tun als hinzukommen.
Napolean ging die restliche Strecke bis zum Haus, dessen Außenmauer wie die Zinnen einer Festung wirkte. Er klopfte an Orvelas Fenster; einen Augenblick später erlosch die Kerze und das Fenster öffnete sich. Sie war ein Gesicht, das im Dunkeln schwebte, und nicht mehr.
»Du kommst spät«, flüsterte sie.
»Wie spät ist es?«
»Viertel nach zehn.«
»Dann liegen wir noch immer in der Zeit.« Er grinste und zog eine Plastikphiole aus der Tasche, die er ihr überreichte.
»Warte hier und beweg dich nicht vom Fleck, es sei denn, es muss sein, verstanden?« Ihr Flüstern klang ernst. »Hier sind sehr böse Männer, und wenn sie dich sehen, dann werden sie nicht in der Stimmung sein, erst Fragen zu stellen. Du bist ein tapferer junger Mann, also warte hier und mach keine Dummheiten.«
Ah, wie hatte er sie vermisst. Als sie das Fenster schloss, lehnte er sich gegen die Wand. Nun lag es an Orvela, die mit den Männern von Mr Andrews Bruder fertig werden musste. Orvela hatte gesagt, dass sie nachts Kaffee tranken, um wach bleiben zu können, und unter diesem Dach waren sich alle einig, dass Orvela besseren Kaffee kochen konnte als jeder andere.
Und ihn bei passender Gelegenheit auch stolz zu servieren wusste.
Der Himmel schimmerte schwarzsilbern, als die Wolken aufbrachen und der Mond hervortrat, und als sein Licht Napoleans Gesicht traf, lächelte dieser. Den Mond und die Sterne zu beobachten war, als würde man in der Geschichte zurückblicken. Dieselben Lichter hatten vor mehr als zweihundert Jahren einen entlaufenen Sklaven namens Macandal auf seinen nächtlichen Vergiftungstouren geleitet. Hatte er zu ihnen aufgesehen und die Zukunft erblickt, ihre Triumphe und Fehlschläge und wie andere aus seinem Beispiel lernen konnten? Hatte er die nächtlichen Wege gesehen, die die Götter gekennzeichnet hatten, damit allein er sie sehen konnte, und hatte er gewusst, dass er eines Tages zu ihnen gehören würde?
Manchmal war die Zukunft deutlicher zu erkennen als die Vergangenheit, wenn man sie durch die Verzerrungen, hervorgerufen von der Zeit und den Menschen, betrachtete, aber zumindest blieben die Lektionen aus der Vergangenheit rein für jene mit offenen Augen.
Und selbst wenn er nichts über diese Kräuter und Pulver gewusst hätte, aus denen man einen Trank brauen konnte, der die Männer einschlafen ließ, dann hätte Mama Charity trotz allem über ausreichende Kenntnisse verfügt. Und Orvela besaß die passenden Nerven dazu.
Das sollte reichen; er betete, dass es auch so sein möge.
Der Mond stand bereits hoch am Himmel, als er hörte, dass das Fenster erneut leise geöffnet wurde. Orvela flüsterte seinen Namen, und er ging zu ihr.
»Sie schlafen jetzt wie die Babys«, raunte Orvela. »Babys mit Waffen in der Hand.«
»Was ist mit den anderen?«
»Miz Kathleen ist schon seit Stunden weggetreten, sie hat ihre Pillen genommen und schläft wie eine Tote. Und Mr Andrew …« Hörte er da ein Zögern? Schwankte sie, als habe sie Schmerzen? So schien es. »Mr Andrew müsste inzwischen schlafen, er ist vor mehr als einer Stunde zu Bett gegangen.«
Er runzelte die Stirn. »Was ist los?«
Orvela schüttelte den
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