Totenstadt
Augen herum, die sich spontan weiteten, dann stieß sie einen spitzen Schrei aus. Ihre Decke rutschte herunter, und sie rutschte aus dem Bett, ihr schlanker, zarter Körper war komplett nackt – er wollte sie anstarren und wagte es nicht, es würde ihm nur Kummer bringen, den er sich nicht leisten konnte. Sie warf sich ein hauchdünnes blaues Nachthemd über, das auf Mrs Evelyns riesiger Frisierkommode lag, und dann musste er hinsehen, zumindest für einen kurzen Moment. Er erblickte dort die Überreste eines Mahls, schmutzige Teller auf einem Tablett, T-Bones ohne Fleisch, verstreutes Besteck und eine Weinflasche, so leer wie eine verratene Seele.
»Napolean?«, flüsterte sie, und dann, als sie die Situation langsam verstand: »Was MACHST du?«
Mr Andrew räusperte sich lautstark, und Napolean nahm seine Hand weg, damit er sprechen konnte, hielt ihm aber weiterhin die Gabel an die Brust.
»Ich glaube, die Lady verdient eine Antwort. Und mich würde sie auch sehr interessieren.«
Seine Blicke wanderten viel zu oft zur Tür, als wolle er bloß Bertin im Auge behalten.
»Ihre Wachen schlafen alle. Es wird einige Zeit dauern, bis sie wieder aufwachen.« Er lächelte, während er die Aussage wirken ließ. »Und Ihre Angestellten sind ebenfalls weg. Wir verlassen Sie.«
Er runzelte die Stirn. »Und wo zum Teufel wollt ihr hin?«
»Wir können überall hin. Geben Sie uns einfach unsere Greencards, dann sind wir schon weg. Wo bewahren sie sie auf, in Ihrem Safe unten?«
Mr Andrew verdrehte die Augen, als er hinter zusammengebissenen Zähnen lachte. »Du undankbarer kleiner Hurensohn, geht es dir nur darum? Die Greencards? Und wenn ich mich weigere?«
Diese Frage hatte er gefürchtet, aber ihm war auch klar gewesen, dass sie kommen würde. Und da ihm Drohungen nicht einfach so über die Lippen kamen, hatte er sich vorbereitet. Bei Mama Charity hatte er den Mann studiert, den er vor einigen Wochen hierhergefahren hatte, Justin Gray. Selbst als Justin vor Trauer um seine Frau fast den Verstand verlor, waren ihm die Drohungen kinderleicht über die Lippen gekommen.
»Dann stecke ich Ihnen diese Gabel in die Brust, so oft ich muss.«
Mr Andrew blinzelte, dann glättete sich seine Stirn. »Als ob du das tun könntest. So ein Blödsinn.«
»Ich bin so weit gegangen, Boss, was habe ich jetzt noch zu verlieren?«
Mr Andrew atmete schwer durch die Nasenlöcher, als ihn die Furcht übermannte. »Kann ich mir wenigstens meine Hose überziehen?«
Napolean zog die Bettdecke zur Seite und ging einen Schritt zurück. Mit mürrischem Blick setzte sich Mr Andrew nackt im Bett auf, sein dicker Bauch als auch seine Brust waren mit grauen Haaren bedeckt. Nun sah Napolean zum ersten Mal den Gips – was war mit seiner linken Hand passiert? Er zielte weiterhin mit der Metallgabel in Richtung Bett, während er zum Schrank ging und die Hose und das Hemd holte, die dort an einem Haken hingen. Er warf beides auf die Matratze.
Während Mullavey sich langsam anzog, hielt Napolean ein Auge auf ihn und das andere auf Clarisse gerichtet. Sie stand angespannt am Frisiertisch wie ein Fohlen, das jederzeit durchgehen konnte, und er verspürte einen Schmerz, der bis tief hinunter in seine Seele reichte.
»Warum ziehst du dir nicht auch was an?«, sagte er zu ihr. »Ich bin wegen der Greencards gekommen, aber verdammt noch mal, du weißt nicht, was du tust, bitte komm mit uns, ich will dich nicht dazu zwingen müssen.«
»Ich gehe nirgendwo mit dir hin, hörst du, nirgendwohin!« Clarisse spuckte die Worte förmlich aus. »Du hast große Träume, was? Ich weiß, wo du hingehst, und du denkst, ich wüsste nicht, wie es da ist? Du denkst, ich wüsste es nicht? Ich sehe es im Fernsehen, schreiende Menschen, schießende Menschen, jedes Mal erzählt die Armee in Haiti etwas Neues über Aristide!« Sie hatte ihre Hände vor sich zu Fäusten geballt, während sie ihn anschrie. »Ich sehe sie, und ich weiß, dass nicht mal jeder Tausendste davon träumen kann, in einem Haus wie diesem hier zu leben! Ich werde das alles nicht wegwerfen, und du wirst es mir auch nicht nehmen! Nicht du, nicht meine Mutter, niemand!«
Napolean behielt Mullavey im Auge, der nun angezogen war, mit nackten Füßen auf der Bettkante saß und zufrieden grinste. Der Verlierer des Krieges, der Gewinner eines Kampfes, das war ein moralischer Sieg, den Napolean nicht zulassen konnte. Wenn Clarisse blieb, dann waren die Greencards auch nicht mehr wichtig, da Mr Andrew noch etwas
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