Totenstadt
leichter, als wenn du dir dafür vergeben müsstest, das Leben eines anderen genommen zu haben.«
Das habe ich schon getan, er könnte es dem Priester sagen, und bis jetzt fühle ich mich gut dabei. Aber er hielt den Mund, es gab andere Dinge, die er wissen wollte. Er rutschte hinunter, setzte sich auf den Boden und lehnte den Rücken an die Wand.
»Wenn ich verspreche, ihn nicht zu töten«, fuhr er fort, »versprechen sie dann, mir eine Frage zu beantworten?«
»Wenn ich es kann.«
»Sie sagten, dass jeden Tag Wunder geschehen. Glauben Sie, dass Gott diese Wunder bewirkt und damit auf Gebete antwortet, die von ganz normalen Menschen kommen? Zumindest gelegentlich?«
»Ja, das tue ich.«
»Wenn das der Fall ist«, murmelte Justin, »warum glauben Sie dann nicht, dass sein Urteil auch zornig ausfallen kann? Und sagen Sie mir jetzt nicht, dass das nicht seine Art ist, wagen Sie es ja nicht erst. Denn bei dem, was ich verloren habe, was sie verloren hat … haben wir einen viel besseren Grund verdient als das.«
Er wartete mit brennenden Augen, deren Blick immer verschwommener wurde, und seine Verzweiflung sprengte alle Maßstäbe. Er bemitleidete den nächsten Sünder, dessen Knie diesen Boden berühren würden.
Als er den Beichtstuhl verließ, hatte der Priester noch immer nicht geantwortet.
Das Schicksal hatte entschieden, und seine Füße trugen ihn zu seinem Wagen zurück, aber er ging daran vorbei. Im French Quarter gab es keine Antworten für ihn, nirgendwo, nicht für ihn, der seine Intentionen laut vor einem Fremden ausgesprochen hatte, der ihn nie verraten konnte, aber Justin vermutete, dass er das schon vorher gewusst hatte. Aber an Wunder konnte er glauben, an helle wie auch an dunkle Wunder, und wenn er nur Zeuge des Letzteren geworden war, so hieß das noch lange nicht, dass das andere niemals eintreten würde.
Und selbst wenn das geschah, wenn er in bedeutungslosen Ritualen einen falschen Trost finden konnte, würde er sich diesen Ritualen hingeben.
Er überquerte die North Rampart und die Basin, breite Boulevards einer modernen Ära, war zurück in der realen Welt und ging am modernen Abfall vorbei, den Heimatlosen, jenen im Übergang. Die moderne Welt ließ er erneut hinter sich zurück, als er zum St.-Louis-Friedhof kam und seine blassen Mauern betrat.
Die zerbröckelnde Nekropole, ein Labyrinth aus Gräbern, in dem der Staub und die Knochen der seit Langem Verstorbenen beiseitegeschoben wurden, um Platz für die neuen zu schaffen. Ganze Familien in einer einzigen Gruft, hier und da sogar Generationen, die auf zuvor Dahingeschiedenen ruhten. Er war vor Jahren schon einmal hier gewesen, während einer Stadtrundfahrt, als er bei einer Karriere, die er offenbar aufgegeben hatte, eine Tagung besuchte. Damals wie heute hatte ihn das Alter berührt, die Mausoleen waren so betagt, dass ganze Matten aus zerzaustem Unkraut auf ihren Dächern wuchsen. Die finale Ironie: Letztendlich ruhten sie hier doch unter der Erde.
Und damals wie heute fand er das Grab der wohl Berühmtesten und vielleicht auch Berüchtigtsten, der hier die letzte Ruhe gefunden hatte. Marie Laveau, die Voodookönigin von New Orleans.
Ihre Grabstätte war am eindrucksvollsten verziert, was nicht an ihrer Bauart lag, sondern von den Händen der zahlreichen Pilger geschaffen worden war, es war bedeckt mit X, die in den Kalk geritzt worden waren, und Stücken aus porösem Ziegelstein. Diese frommen Seelen hatten um die Fürsprache ihres Geistes gebeten; laut der Legende konnte Marie sehr gütig sein und ließ sich von kleinen Geschenken milde stimmen. Schmuckstücke hingen an den Kanten, auf dem Träger lag ein halb abgebranntes Stück Weihrauch. Auf jeder Kante fanden sich Münzen, billige Halsketten, sogar ein Paar Ohrringe. Eine Graffitiinschrift verlief dicht über dem Boden, wo ein metaphysischer Witzbold seine Respektlosigkeit kundgetan hatte: Marie lebt bei Elvis.
Justin fand am Fuß des Grabes eine Streichholzschachtel, in der noch drei heile lagen. Er entzündete den Weihrauchrest. Büschel aus Sandelholz wehten im sanften Wind, süß und schwer, der Geruch der Mysterien.
Er betete.
Vielleicht wirkte er auf die anderen Besucher, die aus viel sekundäreren Gründen gekommen waren, wie ein Narr: Justin, der am Grab lehnte und die Stirn gegen den Stein presste, ein leises Flüstern auf den Lippen, betend zu einer toten Heidin. Möge er nicht gezwungen sein, allein in dieser Welt zu leben, mögen der einen, die er
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