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Totenstadt

Totenstadt

Titel: Totenstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Hodge
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liebte, wieder klare Gedanken und Blicke vergönnt sein, die, mit der er seine eigenen Hindernisse überwinden konnte. Möge sie durch dasselbe Schwert wiederhergestellt werden, durch das sie gefallen war, möge die moralische Ambivalenz dieser unzugänglichsten aller Religionen sich zu ihren Gunsten wenden. Bitte, heilige Marie, gewähre mir diesen Wunsch.
    Er wischte sich die Nase ab, nahm ein altes Ziegelsteinstück von einer der Kanten und ritzte seine eigenen drei X ein, rot und fett. Er suchte in seinen Taschen nach einer Handvoll Münzen und ließ sie auf den Sandstreifen auf ihrem Grab fallen; auf dass sie seine Opfergabe annahm. Dann rieb er seine Knöchel dreimal über den Stein, möge sie es hören und seine Aufrichtigkeit erkennen.
    Erledigt.
    Er tat einen Schritt zurück, atmete tief ein und sah in den leeren Himmel hinauf. Seine Augen waren geschwollen von den vergossenen Tränen, und er hätte um Regen gebetet, wenn er noch eine Seele besessen hätte, mit der er beten oder die er verpfänden konnte.
    Justin entfernte sich langsam vom Grab und kam an einem zerlumpten Vagabunden in mehreren Kleiderschichten vorbei; so wie sie einander bemerkten, hätten sie auch beide blind sein können.
    Beträchtlich mehr Aufmerksamkeit schenkte ihm ein Paar mit einer Kamera, mittleres Alter, mittleres Einkommen, mittleres Amerika. Wie sah er in ihren Augen aus? Wie ausgezehrt, wie verloren, wie tief versunken in dem stehenden Wasser, in dem sie niemals schwimmen würden? Was für ein schönes Bild würde er abgeben, das sie ihren Freunden zu Hause zeigen konnten: Ja, diese Menschen gibt es wirklich, hier ist der Beweis.
    Geh nach Hause, hatte der Priester gesagt. Und das würde er wohl auch tun. Zu welchem, das wusste er nicht länger. Wenigstens hatte er eins.
    Bevor er auf den Ausgang des Friedhofs zustrebte, drehte sich Justin noch ein letztes Mal zu Marie Laveaus Grab um, der letzten Zuflucht seiner Hoffnung. Ein letzter Blick, den er mit sich nehmen wollte, um den dringendsten Bedürfnissen, die da kommen würden, trotzen zu können.
    Und dann sah er den Vagabunden, der auf den Knien lag und eine Handvoll Münzen aufhob.

33
G RAUSTUFEN
     
    Erneut Tampa, wo das Leben weiterlief und sie zurückließ.
    Die Stadt hatte sich während ihrer Abwesenheit verändert. Die Gebäude warfen nun lange Schatten, der Verkehr auf den Bürgersteigen schien noch unbarmherziger und unerbittlicher als je zuvor zu sein, die Palmen schienen an einer inneren Fäule zu sterben, die nur Justin allein sehen konnte – wie ließe sich sonst der drastische Verlust ihrer kraftvollen grünen Farbe erklären?
    Aprils Zustand hatte sich nicht verbessert, nicht an diesem Samstag bei Mama Charity, auch nicht am nächsten oder am übernächsten Tag, als Justin klar wurde, dass er sich nicht länger vor der Welt verstecken konnte. Er brachte sie nach Hause, allerdings im Mietwagen, da er ihre Reaktion beim Fliegen fürchtete – Änderungen des Kabinendrucks, der Start, eines der vielen Tausend kleinen Zeichen, die sie höchstwahrscheinlich in Panik versetzen konnten. Mit dem Fahren kam sie klar, der Rücksitz war ihre Welt, auf dem sie sich einrollte.
    In der ersten Nacht zu Hause schlief er überhaupt nicht, selbst dann nicht, als sie es tat. Der Loft fühlte sich so schrecklich riesig an, so leer wie eine ausgeschabte Gebärmutter.
    April konnte stundenlang dasitzen und ins Nichts starren. Es gab fast gar keine Interaktionen mit der Außenwelt mehr, mit Ausnahme der gelegentlichen Momente der Klarheit, in denen sich ihre Augen auf etwas konzentrierten, das wirklich da war; und er versuchte verzweifelt, das zu sein.
    »Weißt du, wer ich bin?«, fragte er dann.
    April starrte ihn an, mit einer quälenden Erkenntnis und einer Antwort auf den Lippen, die sie nicht herausbringen konnte, danach rannen ihr langsam die Tränen über die Wangen.
    »Was siehst du? Sag es mir«, flehte Justin. »Bitte sag mir, was du siehst.«
    »Die Erde«, ein halbes Flüstern, »an meinem Himmel. Verletzungen.«
    Die Themen variierten, aber sie zog sich unausweichlich wieder zurück; manchmal ließ sie zu, dass er sie in den Arm nahm, dann wieder jaulte sie auf, als würde seine Berührung ihre rohe Haut verletzen. In diesem Fall zog er sich ebenfalls zurück und fand ein wenig Trost in der Fötusposition; sie verwandelte den Körper in eine Festung und ließ dem Geist die Freiheit, jeden Gedanken ins Leere laufen zu lassen. Danke, Gott, danke, Marie, dass ihr mir

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