Totenstadt
recht: Seine Verzückung war in gewissem Maße ansteckend. Knapp zehn Meter vor ihnen war die New Yorker Schauspielerin Holly Jardine ein perfektes Double für die Leinwandgöttin, die schon seit so langer Zeit bewundert wurde. Die Filmmythologie hatte einen gewaltigen Schritt nach vorn gemacht und mehr als fünfzig Jahre übersprungen, um sich vor Hopedowne erneut zu materialisieren …
Und sie war wirklich bezaubernd. Auf ihrer Schaukel gab Holly Jardine eine prachtvolle Ballkönigin ab, die von einem kleinen Hofstaat umgeben war, der sich um ihr Haar, ihr Make-up und ihre Garderobe kümmerte. Ihr rabenschwarzer Schopf teilte sich über einer glatten, makellosen Stirn, blasse Porzellanwangen glühten und waren leicht kokett errötet. Ihr weißer Reifrock mit grünen Tupfern war nach einem Rock entworfen worden, den Vivien Leigh während einer Szene relativ früh im Film auf dem Wilkes-Barbecue trug, und ein gewaltiger Hut wurde mit einem Band unter ihrem Kinn festgebunden. Sie war die reine Unschuld, und sie war gleichzeitig das Feuer.
Ihre Blicke trafen sich, da war sich Justin ganz sicher. Er fühlte es, er spürte diese besondere Magie, die Illusion, die zum Leben erwacht war. Und wie er sich danach sehnte, die sanfte Bescheidenheit ihrer Stimme zu hören.
Dann, als Antwort auf eine unausgesprochene Bitte: »Könnte irgendjemand mal seinen Arsch hier rüberschwingen und mit einem Sonnenschirm dafür sorgen, dass mir die verdammte Sonne nicht mein ganzes Gesicht verbrennt … bitte!«, knurrte sie, und ihre Stimme spiegelte das unverfälschte Brooklyn wider, was einfach nur furchtbar war. Schrecklich.
Das geschah ihm recht. Einen Moment lang hatte er fast an die Lüge geglaubt, die er selbst geschrieben hatte. Zumindest an den Teil, der nicht geklaut war.
Holly Jardine brüllte erneut, dieses Mal schickte sie ihren Stylisten los, der eine andere Bürste holen musste. Die, die sie jetzt hatte, besaß angeblich die falschen Borsten für ihr Haar.
Leonard blinzelte und schüttelte betrübt den Kopf. »Nun, das hat mir die Augen geöffnet. Ich wäre glücklich gestorben, wenn ich das nicht gehört hätte. Warum musste sie auch den Mund aufmachen?«
»Das war jetzt aber sexistisch.« Justin grinste. »Ihr Männer seid doch alle gleich.«
Minuten später trafen sie den Regisseur. Graham Ludden, einer aus der Post-Spielberg-Ära, der sich ultralässig kleidete, von seiner Baseballkappe bis hin zu den Sohlen seiner verschlissenen Nike-Turnschuhe. Er war Anfang dreißig und hatte seinen kurzen sandfarbenen Pferdeschwanz locker im Nacken zusammengebunden. Justin hatte in der Agentur gehört, dass er vor einigen Jahren ein Stück von Orlando die Küste entlang seinen großen Durchbruch gehabt habe, als er die Nachbearbeitung der Miami Vice- Folgen überwacht hatte.
»Das ist also Ihr Geistesprodukt, was?«, sagte Ludden zu Justin. »Ich gebe es nur ungern zu, aber ich selbst trinke keinen Kaffee, doch ich finde Ihre Skripte gut. Welcher Regisseur möchte nicht beim Dreh von Vom Winde verweht das Sagen haben?«
»Ich war schon besorgt, dass wir Probleme mit Regisseuren kriegen, die glauben, wir würden einen Klassiker verhunzen.«
Ludden winkte beifällig ab. »Für die meisten Regisseure gibt es, und das werden Sie auch selbst merken, wenn sie gut achtgeben, eine direkte Verbindung zwischen der Integrität in Bezug auf einen Klassiker und der letzten Steuernachzahlung.«
Justin nickte. »Aha. Wie war Ihr letztes Jahr?«
Ludden mauerte, sein Gesicht war ausdruckslos. Dann murmelte er: »Nun … ich hatte Zeit, einen Kräutergarten anzulegen.«
»Ich dachte, ich hätte darum gebeten, dass man mir einen Schirm bringt«, schrie Holly Jardine. »Graham, würden Sie das wohl erledigen, bevor diese beschissene Sonne mein Gesicht in Rhinozeroshaut verwandelt?«
Ludden senkte den Kopf und schüttelte ihn erschöpft und hoffnungslos. Gott, warum ich?
»Ein zurückhaltendes Mädel, was?«, sagte Leonard.
Ludden verdrehte die Augen. »Ha. Wenn sie noch zurückhaltender wird, mache ich sie einen Kopf kürzer.«
»Und wie ist es mit dem Kräutergarten gelaufen?«, wollte Justin wissen.
»Okay, okay. Ich bin dankbar für das, was ich habe.« Ludden schickte seine Assistentin los, um einen Schirm für die Prinzessin zu holen. »Letzte Nacht raunzt sie den Kameramann an, er solle ja dafür sorgen, dass sie richtig gut aussieht. Bekomme ich irgendetwas davon zu sehen? Nein. Nicht Graham Ludden, er darf ihr nur einen
Weitere Kostenlose Bücher