Totenstadt
herumschob. Er war ein Mann mittlerer Größe, aber gepflegt, hart und kompakt. Ein Hauch von Silberfäden war an jeder Schläfe zu erkennen, und er konnte einen genau beobachten, ohne dass man es überhaupt mitbekam.
»Ich habe die Times-Picayune von heute gesehen. Ist das nicht eine unglaubliche Schande, dieser Raub?« Er sah Aal an und schüttelte den Kopf einmal, während er dabei mit dem Mundwinkel schnalzte. »Das Geschäft des Looziana Juden? Eine wirkliche Schande.«
»Keine Sorge, die waren bestimmt gut versichert.« Ein schmallippiges Grinsen. »Und sie werden schon sehr bald alles wiederhaben.«
»Mit Ausnahme der Kügelchen.«
Aal hielt einen Finger hoch und nickte.
»Haben Sie alles? Gibt es Probleme mit Erskine?«
»Er hat Angst. Er hat alles gut versteckt, aber er hat Angst.«
»Wer hätte das gedacht«, sagte Nathan emotionslos. »Wann wollen Sie alles diesem Haitianer übergeben?«
»Das hat keine Eile. Solange wir nichts über Änderungen des Produktionsablaufs hören, wäre es wohl in Ordnung, wenn er es, hm, sagen wir in der zweiten Septemberwoche in den Händen hat.«
Nathan nickte, seine Unterlippe rollte sich nach unten, und er zog die Augenbrauen hoch, während er nachdachte. »So haben alle einen Monat Zeit, den Einbruch zu vergessen. Ja. Das klingt gut.«
Eine Minute später kam einer der Kellner und brache Nathan eine dampfende Schüssel. Dies war kein Collegejunge, der charmant tat, um sich mit dem Trinkgeld das Studium zu finanzieren; hier fand man nur gestandene Kellner, die ihr Handwerk verstanden. Die Schüssel war gefüllt mit einem dunklen, gehaltvollen Gebräu, das nach Eintopf aussah und geheimnisvoll dampfte. Nathan wedelte sich den Duft in die Nase, und alles andere war vergessen. Er sah aus wie ein Connaisseur mit einem seltenen Bordeaux, der seit Dekaden kein Tageslicht mehr gesehen hatte. Das Vorspiel schien ewig anzudauern, bis er endlich zum Löffel griff.
Nathan knurrte ekstatisch und sah Aal an. »Ich überlege, einen neuen Koch einzustellen. Dies ist eine Flusskrebssuppe.«
»Ah.«
»Daran messe ich sie alle. Wenn sie das hinkriegen, dann werden sie auch mit fast allen anderen Gerichten fertig.« Er sah erst den Kellner an, dann seine Schüssel und dann wieder zu Aal. Stets der rücksichtsvolle Gastgeber. Er bot Aal die Schüssel an. »Möchten Sie vielleicht auch probieren? Das macht keine Mühe.«
Aal hob eine Hand, um das Angebot höflich abzulehnen. Das Zeug war so dunkel und zäh, dass er gar nicht wissen wollte, was sich alles darin befand. Was war in dieser Stadt überhaupt los? Überall, wo er hinging, wollte ihm jemand etwas zu essen anbieten. Probier dies, teste das. Sieben Jahre in New Orleans, und er hatte ihre kulinarischen Fetische langsam satt. An diesem Ort ließ es sich gut leben, aber, großer Gott, dieses Essen! Er war in Washington, D.C., aufgewachsen und hatte dort gewohnt, bis er Anfang dreißig war, und niemand, der nicht zu seiner Familie gehörte, hatte ihm je etwas anderes als einen Schokoriegel angeboten.
Aal sah Nathan zu, der noch ein wenig Suppe in sich hineinlöffelte und sich dabei konzentrierte, als sei er ein Richter, der ein schweres Urteil zu fällen hatte. Nach und nach breitete sich ein Lächeln auf dem Gesicht des Mannes aus.
»Er schwitzt sich da hinten die Seele aus dem Leib«, sagte der Kellner und meinte damit zweifellos den Koch, der gerade beurteilt wurde. »Was soll ich ihm sagen?«
»Heißen Sie ihn herzlich willkommen im Charbonneau’s.« Nathan rührte um und Reis stieg vom Boden hinauf an die Oberfläche. »Aber sagen Sie ihm auch, er soll sich von jetzt an ein wenig mit dem Cayennepfeffer zurückhalten. Hier kommen Yankees her, um ihr Geld auszugeben, und wir wollen sie doch nicht mit blutigem Durchfall in den Norden zurückschicken, nicht wahr?«
Nathan Forrest arbeitete seit fünfzehn Jahren im Restaurantgeschäft, er war mit Mitte dreißig eingestiegen, und die Zeit hatte es gut mit ihm gemeint. Er sah noch fast genauso aus wie der Mann, der das Restaurant gekauft hatte, er besaß noch immer ein gutes Auge und einen exzellenten Gaumen.
Soweit sich Aal erinnerte, konnte das Charbonneau’s bereits auf eine drei Dekaden umfassende Geschichte und einen gewissen Wohlstand zurückblicken, als Nathan es erwarb. Was gemessen an den Standards von New Orleans keine große Sache war, nahm man das Antoine’s drüben an der St. Louis Street als Maßstab. Es war seit fünf Generationen in den Händen derselben
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