Totenstadt
Wand verliefen Regale, in denen kleine weiße Porzellantöpfe Reihe an Reihe standen. Dutzende. Ein Pot-Tête war für Dorcilus Fonterelle reserviert, der Rest besaß ähnliche Funktionen; nur die ungewollten Haar- und Nagelspenden unterschieden sich. In allen befanden sich Blut und Federn eines Opferhahns. Dies war eine Galerie von dem, was die Haitianer vor langer Zeit le Bon-Ange oder »der gute Engel« genannt hatten: die Seele.
In der Mitte der Decke dieses Heiligtums stand der Poteau-Mitan, ein Pfeiler, der als Leiter für die Götter diente, die Loa, und über den sie hierhergelangen konnten. Auf dem Altartisch und an den Wänden befand sich eine liebenswerte Mischung diverser Objekte, die sowohl nützlich als auch heilig waren. Dort standen Flaschen mit Rum und Wein sowie anderen Getränken, Schüsseln und Gläser, Krüge und Teller. Und der Besitz der Götter: das Schwert von Ogu, der Saatbeutel und der Strohhut von Zaka, der Zylinder und Frack von Baron Samedi sowie die Krücke von Legba.
Es war nach Mitternacht, also schon am Freitag, was ein Glück war, denn die Zauberei war eine freitägliche Aktivität; diese wilderen Götter und Göttinnen, mit denen man um die Grausamkeit feilschen konnte, betrachteten den Freitag als ihren heiligen Tag.
Im Kerzenlicht und vom Murmeln des Flusses umgeben nahm Aal die Peitsche in die Hand und wirbelte sie in kunstvollen Mustern durch die Luft, wobei er sie laut knallen ließ. Sie hörten diesen Klang sehr gern, und als das erledigt war, nahm Aal einen Schürhaken aus dem Kohlebecken. Er berührte mit der glühend heißen und roten Spitze mehrere kleine Schalen mit Schießpulver, die um das Heiligtum herum aufgestellt waren. Hell flammten die Explosionen auf, es stiegen blendende Rauchschwaden in die Luft, die nun mit Schwefelgeruch durchtränkt war, diesen Duft mochten sie ebenfalls sehr. Er nahm eine Flasche mit gepfeffertem Rum vom Altar und bot an den Kardinalpunkten Trankopfer dar, indem er ihn dort auf den Boden spuckte, da sie diesen Geschmack gern auf ihren Gaumen spürten.
Die Götter und Göttinnen des Vodoun waren eine Heerschar, und keine wurden mehr gefürchtet als die der Petro- Riten. Furchtsame Haitianer kannten sie als die Teufel oder die Rotäugigen, auch Verspeiser des Menschen genannt. Sie liebten das Feuer und die Grausamkeit; Aal kannte sie gut, und sie kannten ihn.
Er näherte sich dem Altar, der Krücke. »Bei Eurer Macht, Meister der Kreuzungen«, begann er das Gebet, die Anrufung Legbas, die Liaison zwischen den Sterblichen und den Göttern, denen sie dienten, und das Gebet war leidenschaftlich und brutal.
Aal war von Kopf bis Fuß mit göttlichem Schweiß durchnässt, er hatte den Gestank des Schießpulvers in der Nase, als er zusammenzuckte, er spürte die Berührung einer fernen Hand, als er zum mittleren Pfeiler wirbelte. Seine Lippen zogen sich von den Zähnen zurück, und seine Gliedmaßen schienen sich zu versteifen, oh, der Gott war nahe, und er war begierig.
Er taumelte zum Altar, nahm den Stift in eine Hand und kritzelte den Namen von Henry Cobb auf ein Blatt Papier. Dann tauschte er den Stift gegen ein Messer mit Knochengriff und beugte sich über das aufgerollte rosafarbene Ding, das auf einem der Teller lag. Es war eine Rinderzunge, samt Wurzel und allem, dick und feucht. Aal schlitzte sie der Länge nach auf, griff in der Mitte in die Öffnung und steckte den Zettel mit Henry Cobbs Namen in den Spalt. Er umwickelte sie fest mit einer geronnenen Masse aus einem Porzellangefäß, das für Henry gedacht war, zusammen mit verrotteten Stücken eines Bananenblattes, Blut, Federn und den Stücken, die er Henry ohne dessen Wissen abgenommen hatte. Aal drückte alles mit glitschigen Fingern zusammen, dann nähte er es mit einer Nadel und einem dicken schwarzen Faden rasch mit groben Stichen fest.
Und das eingesperrte schwarze Schweinchen begann zu quietschen.
Er hatte Tiere gesehen, die zu Ehren der wohlwollenderen Rada-Götter geweiht worden waren und ihrem Ende ruhig und friedlich entgegensahen, mit tierischer Würde, als würden sie die Anwesenheit der Götter spüren und sich ihnen daher willentlich hingeben. Gestreichelt und besänftigt von Händen aus einem anderen Reich.
Solch geschmacklose Barmherzigkeit war unwichtig für die Petro.
Das kreischende Schwein wurde aus dem Käfig genommen, es wackelte dabei wild mit seinen kleinen Beinchen, und Aal hielt es fest. Es hatte zuvor geweihtes Futter gefressen und sein Schicksal
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