Totenstadt

ein Körperkontakt, und sie wusste das ebenso gut. Ein Rettungsanker oder zwei, geworfen und gefangen. Und in gewisser Weise hatte er dasselbe für sie getan, wenngleich für sie nicht so viel auf dem Spiel gestanden hatte. Wie bei Katastrophen üblich, hatte er im letzten Jahr aus allen Rohren gefeuert. Er war noch nie ein Typ für halbe Sachen gewesen.
    Hand in Hand, ihre Beine ineinander verschlungen, passten sie perfekt auf das Sofa. Es war Fernsehzeit, sie sahen sich all den albernen Kram an, den sie verpasst hatten, weil sie sich nicht früher im Leben kennengelernt hatten.
    Zwanzig Uhr sechzehn, Ostküstenzeit. Die Lebenskrisensitcom wurde ausgeblendet und es kamen die Werbespots.
    »Oh! Oh! Ist er das?«, schrie sie. Ihre Hand schloss sich fest um seine.
    Er war es.
    Ein Schritt in der Zeit zurück zu einer einfacheren Ära der Muße, des Komforts und der Romantik; dies alles wurde schon in der ersten Szene deutlich: Die Hopedowne Plantage aus Virginia verwandelt sich in Tara. Der Mythos war plötzlich realer, als die Geschichte je sein konnte. Und natürlich war alles mit vertrauter Musik unterlegt.
    Weiche Überblende auf Holly Jardine, der Inbegriff der Vorkriegs-Südstaatenheldin, in deren Augen das Feuer und die Unabhängigkeit lodern, sowie ein schwacher Hinweis auf mögliche Kapitulation. Scarlett O’Hara ist wiedergeboren, namenlos, und sitzt auf ihrer Schaukel mit Satinsitz und seidenen Seilen. Die Kamera liebt sie, und man kann die Blumen dieses Sommertags im Süden förmlich riechen.
    Die Kamera rückt etwas näher, als sie mit anmutiger Grazie in jeder Bewegung zu einem Tischchen in der Nähe greift, auf dem ein glänzendes Silbertablett steht … sie zieht ein Magnolienblüten-Kaffeepad aus der Packung … legt es in die Tasse, kostbares Porzellan, das perfekt zu ihrem Teint passt … sie füllt die Tasse mit kochendem Wasser aus einem Porzellankessel … und taucht das Pad ein, während Dampfschwaden ihre Hand umhüllen.
    Sie trinkt.
    Sie lächelt, und ihre Finger umfassen die Tasse.
    »Es heißt ja, man bekäme den Geschmack frisch gebrühten Kaffees nicht bequem in einem Augenblick hin«, sagt sie und deutet es leicht als Frage, ihr makelloser Akzent lässt jedes Wort wie einen versteckten Flirt klingen. Sie hält inne, neigt unmerklich den Kopf, als wolle sie die kokett emporgezogene Augenbraue noch ein wenig deutlicher betonen. »Ich sage … das ist doch Unsinn.« Ihr Timing ist perfekt.
    Das sollte es auch sein. Allein für diese zwei Sätze hatten sie sechsundzwanzig Aufnahmen gebraucht.
    Die letzten beiden Sekunden des Werbespots waren von einer Produktabbildung im Vordergrund geprägt, einer dampfenden Tasse neben einer Packung Magnolienblüte mit der Plantage im Hintergrund, keine weitere Werbebotschaft, einfach nichts außer der Musik, die leise ausgeblendet wurde, und der unnachahmlichen Atmosphäre des Georgias aus dem neunzehnten Jahrhundert. Minimalismus.
    April jauchzte und öffnete den Champagner, der Korken glitt mit einem lauten Ploppen heraus und flog Richtung Decke. Und Justin stellte fest, dass es genauso klang, als habe gerade jemand einen Schuss auf ihn abgefeuert.
     
    Über und vor ihren schläfrigen Augen war die Decke öd und leer, sie hätte all ihre Grübeleien dort oben auflisten können. Sie lauschte auf seinen Atem neben ihr, Justin lag unter der Decke. Fünfzehn Minuten postkoitaler, postzärtlicher Stille, und das waren nicht die tiefen Atemzüge eines Schlafenden.
    Sie hatte an den richtigen Stellen und auf die richtige Weise Schmerzen. Es war etwas Wunderbares an dem zärtlichen Dröhnen da unten, von diesem Zusammenstoß zweier Schambeine, die verzweifelt versuchten, zu einem zu verschmelzen. Sie neigte zu einem angenehmen Masochismus, und zur Vervollständigung der Unterwerfung rollte sie sich auf den Rücken und ließ sich von Justin dominieren, wenn sie Liebe machten und zum Ende kamen. Was für Höhen sie nun zusammen erreichen konnten, ein Geschenk der Vertrautheit, die sie mit der Zeit gewonnen hatten. Justin war so energisch, enthusiastisch, akrobatisch, zärtlich und aufmerksam genug, dass sich seine Sexualität mehr ums Geben als ums Nehmen drehte. Sie war mit den stilistischen Varianten der Männer vertraut genug, um diese seltene Spezies schon beim ersten langen Kuss zu erkennen.
    Aber heute Nacht … Justin über ihr, der in einer besonders grimmigen Selbstvergessenheit festsaß; sein Körper war da, aber sein Geist war ganz woanders. Es war ja