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Totenstadt

Totenstadt

Titel: Totenstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Hodge
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breitem Rand, und ihr Haar, das einst rabenschwarz gewesen war, wirkte nun ob der weißen Strähnen noch viel beeindruckender. Sie besaß ein gütiges Gesicht und eine gleichmäßige Stimme, von der man einfach wusste, dass sie gut gezielt austeilen konnte, wenn sie provoziert wurde. Diese professionelle Frau, die so ordentlich und gepflegt auftrat, umgab sich dennoch gern mit ein wenig Unruhe, wenn man sich genauer in ihrem Büro und vielleicht auch in ihrem Leben umsah. Da waren die überfüllten Bücherregale, der ausgebeulte Aktenschrank und der überquellende Terminkalender. All das hatte wahrscheinlich dafür gesorgt, dass sich April zu ihr hingezogen fühlte, denn all das war überaus menschlich.
    »Wovor hatten Sie Angst?«
    April dachte einige Augenblicke lang darüber nach. Sie saß in ihrem weichen, robusten Stuhl, der im stumpfen Winkel zu dem von Carole Gurvitz stand. Eine Couch brauchten sie nicht; Dr. Gurvitz fand es viel wichtiger, stets genug Taschentücher zur Verfügung zu haben. April legte die Hände auf die Sessellehnen und stemmte ihren verspannten Körper ein wenig nach oben, als würde sie schweben. Heben, senken. Stärke für den Oberkörper, Energien verbrennen. Das half ihr manchmal beim Überlegen. Ja, wovor hatte sie sich eigentlich gefürchtet?
    »Wollen Sie die Wahrheit wissen?«
    »Nein, lügen Sie mich an.« Dr. Gurvitz nahm langsam die Brille ab. Erstaunlich, was für eine Barriere sie zuweilen darstellte.
    »Justin wollte diese Reise in das Haus seines Klienten eigentlich gar nicht machen. Und ich kann es ihm nicht verdenken. Ich war nicht eingeladen, und er sieht diese Leute bei der Arbeit schon oft genug, also kam ihm ein ganzes Wochenende ein bisschen zu lang vor, wissen Sie. Es machte mir nichts aus, dass er ging, ich sah es nicht als Bedrohung. Ich hatte gedacht, diese Kumpelveranstaltungen für Mitarbeiter wären schon vor fünfzehn oder zwanzig Jahren aus der Mode gekommen … Es machte mir wirklich nichts aus. Ich war eigentlich nur froh, dass sein Klient so viel von seiner Arbeit hielt, dass er die Einladung auch auf ihn erweitert hatte.« Okay, okay, und nun tauche in den Rest, hol ihn hervor ans Tageslicht. So tief begraben konnte er nur eitern und durch den Rost nur weiter an Gewicht zunehmen. »Ich weiß nicht, warum er angerufen hat, ob es einen besonderen Zwischenfall gegeben hat oder ob ihm einfach nur danach gewesen ist … aber ein Teil von mir fühlte sich, als sei ich eine Mutter, deren Kind aus dem Ferienlager anrief und Heimweh hatte. Dieser Teil von dir kann einem beinahe das Herz zerreißen, aber ein anderer Teil will dem Kind sagen, es soll es aussitzen, da es ja nicht ewig dauert.«
    »Also wollen Sie damit sagen, dass sie sich gefühlt haben, als wären Sie seine Mutter?«
    April schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das ist es nicht. Ich … ich wollte einfach nicht, dass er zu sehr von mir abhängig ist. Ich kann nicht seine Krücke sein, nicht zu dieser Zeit, wo ich endlich einige Dinge begreife.«
    »April, nach allem, was Sie sagen, klingt es, als sehen Sie diesen Telefonanruf so, als hätte Justin nur ein wenig zusätzliche emotionale Unterstützung gebraucht. Die brauchen wir alle hin und wieder mal. Sie scheinen darauf zu reagieren, als würde noch mehr dahinterstecken. Nach allem, was Sie mir erzählt haben, gibt sich Justin wirklich Mühe. Fällt Ihnen vielleicht schwer zu glauben, dass das so bleiben wird?«
    »Nein«, erwiderte sie und reckte sich. »Ich vertraue ihm in dieser Hinsicht wirklich. Er ist sehr viel stärker als früher.«
    »Warum spüren Sie dann diese Schwäche in ihm, die ihn dazu bringt, sich zu sehr auf Sie zu verlassen?«
    In Augenblicken wie diesen wünschte sich April, ihre Hände abnehmen zu können. Dass sie sie einfach am Empfang lassen und nach dem Termin wieder abholen könnte. Sie wusste einfach nicht, was sie mit ihren Händen anstellen sollte. Wenn sie zu Hause über etwas nachdachte, konnte sie dabei auf einem Blatt herumkritzeln und so Formen, Fragmente und Gesichter entstehen lassen. Hier gab es nichts weiter als die reine, harte Konzentration des Unbehagens.
    »Er hasst seinen Job jetzt«, sagte April schließlich. »Jedenfalls die meiste Zeit. Er kann sich nicht entscheiden, ob er kündigen soll oder nicht. Ich habe ihm geholfen, diesen Job zu bekommen! Nun, zumindest das Vorstellungsgespräch. Und er hat gute Arbeit geleistet, und das in gerade mal einem Jahr; ich bin deswegen wirklich stolz auf ihn. Und

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