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Totenstadt

Totenstadt

Titel: Totenstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Hodge
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des Tages zu verstehen, an dem die sechsjährige April ihre erste unschuldige sexuelle Erfahrung mit dem Nachbarsjungen gemacht hatte, nach der ihr Vater – der ihr soeben eine Ohrfeige gegeben hatte – versehentlich in die Tischsäge geriet und einen Teil seiner Hand verlor. Sex und Schuld waren nun irgendwie verbunden, ineinander verwoben, und sie hatte sie mit in ihr Erwachsensein genommen wie Jacob Marley seine Ketten aus unendlicher Gier.
    Dr. Gurvitz verließ sich nicht allzu sehr auf die ach so wichtige Vergangenheit, sondern nur auf die Vergangenheit, die wichtig war, damit ein Patient in der Gegenwart funktionieren konnte. April verstand nun, welche Grundlage ein einziger Zwischenfall für ihr ganzes Leben gelegt hatte, wie sie sich auch als Erwachsene immer wieder auf die Bestrafung eingestellt hatte. Sie hatte kleine psychologische Stolperdrähte auf ihrem Weg zur Leistung ausgelegt … dumme Entscheidungen, Drogenmissbrauch, falsche Entscheidungen in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen. Eine erniedrigende Verbindung mit Tony Mendoza und seinem Elend, die sie schließlich zu einer Verlobung mit einem sicheren, risikolosen Mann gebracht hatte, der ihr ein Leben beschert hätte, dessen einziger Höhepunkt ihre gute Versorgung gewesen wäre. So war es kein Wunder, dass sie Justin so attraktiv gefunden hatte, als er ihr über den Weg lief: ein im Allgemeinen erfolgreicher Kerl, der kurz vor dem Ruin stand.
    Carole Gurvitz glaubte nicht, dass eine Methode allein der Weg zur Genesung sei. Mit der direkten Analyse wurden die ungesunden Dramen herausgefunden, die April ihrer Neigung entsprechend immer wieder durchlebte. Dank der Gestalttherapie konnte sie sich besser auf die darunterliegende Schuld konzentrieren, die mit der Verstümmelung ihres Vaters zu tun hatte; sie durchlebte diesen Moment mit all seinem Schmerz noch einmal und konnte ihn dann endlich begraben.
    Aber April bevorzugte eindeutig die Kreativtherapie. Aufgrund ihres künstlerischen Talents war sie von Dr. Gurvitz ermutigt worden, einige Kunstwerke nur für sich allein zu erschaffen, ohne dabei an die Vorgaben der Klienten zu denken oder an den herkömmlichen Richtlinien festzuhalten … sie packte sich einfach jede frei schwebende oder tief verwurzelte Sorge in ihr und riss sie los. Sie gab ihnen eine Gestalt, eine Form, eine Farbe. Sie gab ihnen ein Zuhause, sei es Papier oder Leinwand, zumindest einen anderen Ort als ihren Geist oder ihre Seele. Sie hatte Ölfarbe verwendet, was ihr angemessen erschien: Sie konnte sie schichtweise auf die Leinwand auftragen und dabei so viele Schichten verwenden, wie sie brauchte. Eine für jede Schicht der defekten Psyche, die sie entfernte.
    Die Gemälde waren vom Charakter her eher schaurig. Surrealistisch: ihre Mandelaugen, groß und in einem Nebel schwebend, die eine Kaskade abgetrennter Finger ausweinten. Oder zwei Aprils, eine zerdrückt und platt, zerschunden von den Schrammen durch Abhängigkeit und Missbrauch, während die andere April wie ein Phönix aus der Asche emporstieg, noch nicht ganz ihre Form angenommen hatte und immer noch durch eine Nabelschnur aus Videoband mit der ersten verbunden war. Und noch viele weitere.
    Aber sie konnte sie sich jetzt ansehen und spürte dabei nur minimalen Schmerz. Sie spielte sogar mit dem Gedanken, sie eines Tages in einer hiesigen Galerie auszustellen. April war durch die kreativen Schichten von Ybor City, die sie bewunderte, derart eingeschüchtert gewesen, dass sie nie in Betracht gezogen hatte, ihre Werke dem Publikum zugänglich zu machen. Aber das war ein neues Ziel. Das Thema hatte ihr einfach zu viel bedeutet.
    »Und was ist mit Ihnen?«, fragte Dr. Gurvitz. »Möchten Sie dahin zurück und wieder so leben?«
    April begann wieder mit ihren Übungen. Sie rang mit der Wahrheit, mit sich selbst, mit ihren Illusionen. Schließlich: »Vielleicht. Wenn man mir garantiert, dass ich es auch überlebe.« Und dann lachte sie. »Aber das wäre Betrug, nicht wahr? Als würde man das Ende eines Films schon vorher kennen.«
    Sie kaute auf ihrer Lippe herum, und konsultierte den Teil in sich, der ihr oft zu Hilfe kam, die April, die Risiken kalkulieren konnte: Die April, die es hasste, vor einer Herausforderung zurückzuweichen. Die April, die sie immer am meisten gemocht hatte.
    »Vielleicht würde ich das tun. Für all das, was ich getan habe, um im letzten Jahr lebendig und an einem Stück da wieder rauszukommen, würde ich es vielleicht tun. Einfach nur,

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